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Full text of "Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung [2. Auflage]"

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Siegfried Bemfeld 

Sisyphos 

oder 

die Grenzen der Erziehung 

I« K mrirtrr sriti glaube, daß seit langem, im fragwürdigen 
II#»* *■ I» der Pädagogik keine wichtigere Erscheinung 
>i v«’i » . lehnen war, öle diese Schrift, Übrigens 811 ck 

! tu i illrin lütteren Ernst witzigere und vergnüg- 

IuIhm# { WynA *n im Btrfimr Tagthlatt)* — Selten 
«uni ikf schein har f o sicheren Grundlagen der Pad- 
*g*giL •«* grundlick unterwuhlt worden, wie in dem 
'«■i li*if*nd*n geistvollen Bucke, (Zekschr* f\ SexuaK 
liitirfiffi hilft.) Natürlich, wesentlich notwendig. 

^/* Of*(r*tch in: Df# neu* ErüiekungJ — Geistreiche 
Sir lilicli Leit und anmutige Ironie. (Ostseeseitung.) 


Iriicrntiinmaler Psychoanalytischer Verlag 
Leipzig / W i e d / Zürich 



















Dr. Siegfried Bernfeld 


. 






■ ■ 

■■ ■■ 



















































































































BERNFELD 

SISYPHOS 
























Sisyphos 

oder 

die Grenzen der Erziehung 


von 

Dr. Siegfried Bernfeld 


2. Auflage 


1928 

Internationaler Psychoanalytischer Verlaß 
Leipzig / Wien / Zürich 




















ZWEITE AUFLAGE (3-— 4. TAUSEND) 


ALLE RECHTE, INSBESONDERE DIE 
DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN 

COPYRIGHT 1925 BY „INTERNATIO¬ 
NALER PSYCHOANALYTISCHER 
VERLAG, GES. M. B. HWIEN 



INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 











VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE 


Die Grenzen der Erziehung sind seit dem Erscheinen 
dieses Buches den Pädagogen recht deutlich sichtbar geworden. 
Was vor drei Jahren (und gar vor vier, als dies Rudi 
geschrieben, vor fünf und sechs, als sein Inhalt den Hörern 
eines Pädagogiums vorgetragen wurde) ketzerisch klang, 
ist heute ein vielgebrauchtes Schlagwort. Wenn der Verlag 
nun eine neue Auflage für notwendig hält, so sdieint sie 
für die pädagogische Literatur um so mehr überllüssig zu sein, 
als die Diktion dieses Buches durdi die Situation bestimmt 
ist, in der ich es dachte und schrieb: ln dem Gefühl, völlig 
unzeitgemäße Dinge zu sagen, ohne Hoffnung, daß sie in 
einem breiteren Leserkreis Glauben finden könnten, schien 
mir ein Buch, das übertreibt und überspitzt, geeignet, 
wenigstens einige Lacher auf seine Seite zu bringen, etwas 
Zweifel zu säen, faule Idealisten zu erschüttern. Da dies Buch 
nun vergriffen ist - hätte sein Autor nidit die seltene 
Chance, statt einer neuen Auflage die Bekanntmachung 
in che Welt zu schicken: „Der kluge Sisyphos ist durdi 
die Lektüre des ihm gewidmeten Pamphlets zur besseren 
Einsicht gelangt und hat seine idealistische Beschäftigung 
aufgegeben; daher erscheint statt der zweiten Auflage jenes 
erfolgreichen Büchleins die erste des nunmehr nötigen 

praktisdien Handbuches: Hekuba - oder die bescheidene 
Kind erbe treu ung?” 

Aber - leider Jene wirkliche eingetretene Sinnes¬ 
änderung der pädagogischen öffentlichen Meinung ist nicht im 



















mindesten von meinem Buch bewirkt. Zeidlers undGiesebredits 
ticher über die Grenzen der Pädagogik (erschienen bald 
nadi dem Sisyphos) und vor oder hinter ihnen Kriech und 
Lut sind Anreger und Träger dieser Linkehr. Und mein 
Buch, bei weitem nicht überflüssig geworden, hat nun erst 
seinen Platz und seine Aufgabe. Was in ihm als Grenze 
der Erziehung ausführlich dargelegt wird, erscheint meinen 
sehr geschätzten Nachbarn nach wie vor als unendliche 
M eltenflur, in der man pädagogisch nadi Belieben lust¬ 
wandeln kann. Die Erziehbarkeit des Kindes ist beschränkt; 
die Erziehfähigkeit des Erziehers ist es gleichfalls — diese 
beiden Grenzen erwähne ich in meinem Buche nur eben, 
weil sie seit je gekannt, wenn auch nicht immer beachtet 
sind. Ausschließlich ihrer Erörterung aber widmen sich jene 
Schriften und Diskussionen. Da es wirkliche Grenzen sind, 
muß sich die Erziehungswissenschaft ihrer Erforschung 
widmen; da sie die weithin sichtbaren sind, ist ihre neuerliche 
Markierung aber nicht so dringlich als die Aufdeckung der, 
auch heute noch unsichtbaren, dritten: der gesellschaftlidien. 
Nicht die Pädagogik baut das Erziehung«wesen, sondern 
die Politik. Nicht Ethik und Philosophie bestimmt das Ziel 
der Erziehung nach allgemein gültigen Wertungen, sondern 
die herrschende Klasse nach ihren Machtzielen; die.Pädagogik 
verschleiert bloß diesen höchst häßlichen Vorgang mit 
einem schönen Gespinst von Idealen. Nicht die Erziehung 
verwirklicht das Mensdiheitsideal vom Menschen, sondern 
die Umwälzung der heutigen Gesellschaft schafft den Raum 
für einen höheren Mensdiheifstyp — die Erziehung, die diese 
gescllsdiaftlidie Grenze ihres Wirkens nicht sieht, hilf! mit, 
gerade den Menschenschlag zu verewigen, den ihre philo- 








Unme^L^lrrfluL 018 UnerZ ° ge " en ’ * ,S »"bildeten, als 

„Silyphos” t**. de '' erSte ’ dCr diCS behaUPte,i aber — 
14 sehe ' . er2C,t ,m P“ da Bogis*cn Schrifttum - soweit 

it^ ei,; sT T lil,d '' ^ diCSe Beha Wen ohne 
auf i. , 11 r. d * wanken wiederholt, und sie fundiert eben 

und p ' SS * ns4aft > weldle die Erziehbarkeit des Kindes 
we rziehfähigkeit des Erziehers sehr beträchtlich zu 
'ermssem imstande ist und somit die letzte Illusion der 
agogtk wird, aui die Psychologie Freuds. Wenn ith heute 
man dies richtiger sagen zu können vermeine und 

wenn die neue Situation, da ja nunmehr ein Teil der 
Pädagogik clurdi sich selbst in r 

erlauben würde, das zent.e Pro iT " * ^ 
rierrnri .md - ßuiem scharfer arminien- 

!st d , weniger spöttisch aggressiv zu umwickeln, so 

' , d " erSt red,t *“““ #<*4 nötig. Kleine Ver- 
esserungen wurden ihm nicht viel helfen, und die große 

<l.'n AuXr t! ’ die ihm n0t tUt ’ kann ihm nid « «eben: 

, ^ SbaU 2U e,ncr Psydiologisdt und soziologisch fundierten 
Uzieliungswissenschaft, die in ihrem Gegensatz zur, nach 2 

als n„c . kanntel1 ’ geisteswissenschaftlichen Pädagogik 

Gesinnuird 6 " h* 8111 '**’ "" Gegcnsall! zu der idealistischen 

Stlsdie bezelch' 8816 " 0dl gHlti8e " l>ada gogik als materlall- 
e “'-«sehnet werden müßte. 




























I 

VON DER PÄDAGOGIK 

Den weimarischen Untcrriditsminister Herrn v. Wyden- 
brudi zu tätiger Hilfe für Fröbcls Kindergarten zu gewinnen, 
bemühte sich Frau v. Marenholz-Bülow in Tisdigesprädien 
die Einwände beredt zu zerstreuen, die dem Minister bisher 
zugetragen worden waren. Sie sprach von der Freiheit, zu 
der die Menschen durdi Fröbels Methode erzogen würden. 
Der Minister schien geneigt, solche Möglichkeit zu glauben, 
aber die Freiheit selbst schien ihm nicht wünschensw ert, das 
Wort sogar schon ist gefährlich. - Es war im Jahre 1850. - 
Frau v. Marenholz beeilte sich zu versichern, es sei nur 
die innere Freiheit, die sie meine, die Freiheit der eigenen 
Entfaltung. Ich glaube nidit, daß Frobels Methode diese 
allgemein erzielen könne, war dagegen Herrn v. Wyden- 
bruchs Meinung, denn die Menschen werden immer Men¬ 
schen bleiben, das heißt unvollkommene Wesen. Immerhin 
w'ürde er zu gegebener Zelt nicht versäumen, das Mögliche 
zur Förderung der Methode zu tun. Vorerst aber müsse 
Ruhe und Ordnung in den Staaten geschaffen sein.’ 

Diese Geschichte enthält so viele Punkte, die mir für die 
Erörterungen, die in diesem Buche bevorstchen, wichtig er- 


*) Anekdotisch verkürzt nach Marenholz, Erinnerungen an Fröbel. 
Bernfeld, Sisyphos l 


1 




































scheinen, in sidi verdichtet, daß sie ihres Symbolwertes 
wegen wohl geeignet ist, sie einzuleiten. Sie führt uns von 
verschiedenen Seiten her an jene Gesichtspunkte, die nach 
meiner Meinung im Zentrum stehen sollten, wenn die Frage 
nach den Grenzen der Erziehung erhoben wird. Da ist 
zunädist die nadisiditige Skepsis des erfahrenen Staats¬ 
mannes gegenüber den Versprechungen der Pädagogik. (Er 
ist freundlidi, vielleicht nicht nur weil eine Dame und 
Baronin ihm Fröbels wunderliche Ideen vermittelt, sondern 
weil diese Ziele selbst seine Sympathie haben, mindestens 
weil sie der ganzen Menschheit Sympathien haben, und, 
könnte er nidit mitfühlen, er sich selbst verdächtig oder 
verächtlich ersdicinen müßte. So bleibt ihm unbewußt, daß 
er im Grunde diese Sympathien nicht teilt, oder er hütet 
sich, seinen Widerstand gegen des edlen Fröbel Ziele und 
Ideale zu verraten. Bei Diplomaten kann man das nie sicher 
wissen. Andere Mensdien werden wirklich fühlen: Es wäre 
schön, aber -. Der Minister glaubt nidit an die Möglichkeit 
der Verwirklichung dieses an skh — vielleicht — so Schönen 
und Wünsdienswerten. Zu gut kennt er die endlose Kette 
unüberwindlicher Schwierigkeiten, die der bescheidensten 
Veränderung an menschlidien Einrichtungen und Beziehungen 
entgegen steht. Er kennt die undurchdringliche Kompliziert¬ 
heit der Realität. Seine Erfahrungen und die Geschichte 
haben ihn gelehrt, mit der Tatsache einer grotesken Dis¬ 
krepanz zwischen Leistung und Erfolg in allen menschlichen 
Dingen zu rechnen. Aber hier scheint ihm der Bezug ver¬ 
kehrt worden zu sein. Er weiß, daß ungeheure, andauernde, 
aufreibende Arbeitsleistung im glücklichen Fall minimalen 
Erfolgseffekt zeitigt; er kann nicht glauben, daß ein wenig 
Kosclied und ein paar Spielgaben Mensdiennatur und -ein- 
richtung von Grund auf Umstürzen werden. Ich überschätze 
wahrscheinlich den historischen Herrn v. Wydenbrudi. Aber 



es geht nicht um ihn und nicht um das Jahr 1S50, sondern 
darum, daß in ihm die Einstellung der nidit pädagogisdien 
Welt, audi der heutigen, zu der Pädagogik und den Päda¬ 
gogen symbolisch gekennzcidinet ist. Nadisiditigkeit gegen¬ 
über ihren Idealen - es wäre schön - und entsdiiedener 
kalter Unglaube gegenüber ihren Programmen, Mitteln, 
Versprechungen: das ist die Haltung aller, der Gedanken¬ 
losen wie der Nachdenklichen, zur Pädagogik. Ausgenommen 
sind im wesentlidien nur die Pädagogen selbst. 

Der Leser wird leidit geneigt sein, diese Behauptung sehr 
übertrieben zu finden, und könnte darauf hinweisen, daß die 
Erziehung, nadi dem Kriege vielleicht noch mehr als früher, 
sehr weite Schichten der Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt, daß 
jede Erziehungsfrage gewiß sein kann, teilnehmende Kreise 
zu interessieren, die weit davon entfernt sind, beruflich an 
sie gebunden zu sein, ja daß sdiließlidi in wenigen Grund¬ 
sätzen soldic Übereinstimmung herrscht, wie darin, daß zahl¬ 
lose Mißstände der Gegenwart, das Schicksal der Zukunft 
nur durdi Erziehung verändert werden können. Dieses 
Interesse, das in einem gewissen Maß sicherlich besteht, 
sollte nidit überschätzt werden. Es wirken hier zwei Fak¬ 
toren mit, die den Tatbestand zu verschleiern vermögen. 
Ein großes Kontingent der Nichtpädagogen, die an der 
Pädagogik interessiert sind, stellen die Eltern. Sie haben oft 
Grund, mit der Entwicklung ihrer Kinder unzufrieden zu 
sein; sie befürchten, ihre Kinder könnten mißraten, und 
ihre Sorge läßt sie Umschau halten nach Anweisungen, was 
sie zu tun haben, nach Diagnose und Prognose, wie sie das 
Verhalten ihrer Kinder zu bewerten, was sie von ihrer Zu¬ 
kunft zu erwarten haben. Die erziehende Funktion der 
Familie ist allerorten in Frage gestellt, die pädagogischen 
Hausmittel, mit denen die Großeltern sich zu behelfen wußten, 
scheinen nidit mehr zu wirken, wenigstens haben sie das 

I* 


3 



meiste von ihrer Autorität und Geltung verloren, die Un¬ 
sicherheit in allen Wert- und Gesellschaftsfragen nimmt den 
Eltern den Mut, ihren eigenen Willen rücksichtslos durdi- 
zusetzen, Schuldgefühle und Feindseligkeit gegenüber den 
Kindern und der Familie, der wirtschaftlichen Not, der 
seelischen Beengtheit, die sie im Gefolge haben, erzeugen 
den Wunsch, sich zu rechtfertigen, eine erprobte Erziehungs¬ 
lehre zu verwenden, die, w enn sie schon nicht zum gewünsditen 
Resultat führen mag, dodi erlaubt, sich zu sagen, man habe 
das Mögliche getan. Diese Situation erzeugt allerdings ein 
beträchtliches Interesse an der Erziehung. Aber ich habe, 
nicht den Eindruck, daß es sich zu einer Schätzung der 
Pädagogik verdichtet hätte. Im Gegenteil sind Anzeichen 
genug vorhanden, die eine gewisse Ermüdung, Enttäuschung 
auch dieser natürlichen Interessenten, der Eltern, für morgen 
schon prophezeien lassen. Denn die Pädagogik hält nicht, 
was man sich von ihr verspricht. Sie gibt keine klaren, ein¬ 
deutigen, konkreten Anweisungen, ihre Mittel sind selten 
wirklich erfolgskher, ihre Prognose oft falsdi, nie gewiß, 
immer in eine späte, unabsehbare Zukunft weisend. Wenn 
bei dieser Lage nicht ein rapider Abfall des Interesses 
bemerklich wird, so mag dies vor allem daher kommen, daß 
für jeden Interessenten, der durch Enttäuschung - oder da¬ 
durch, daß die Kinder aus den Sorgenjahren entwachsen - von 
der Pädagogik abfällt, ihr ein neuer hinzuwächst, der in die 
Elternsituation eben eingetreten ist. Aber diese Lage verhindert 
zu ihrem Teil, daß die Not und das Interesse sich zur vollen 
Schätzung der Pädagogik, zur Anerkennung ihrer Autorität, 
zur Befolgung ihrer Vorschriften und zur sozialen Hochschätzung 
ihrer Vertreter entwickelt. Sie reicht nur hin, das wirklidie 
Maß von Skepsis und Geringschätzung zu verschleiern. 

Ein zweiter Umstand, der den in des Herrn v. W. Haltung 
symbolisierten Tatbestand verdunkelt, ist vielleicht noch 


4 


viditiger, aber eben deshalb wird er uns später nodi aus- 
führlidier beschäftigen. Hier sei er nur eben angedeutet. Das 
Schulwesen und die Erziehungseinrichtungen sind veraltet, 
sie bedürfen der Erneuerung. Die in den letzten Jahren so 
rasdi verwandelten politischen, sozialen, wirtschaftlichen Zu¬ 
stände fordern vom Erziehungsapparat der Gesellschaft 
energisdiere Anpassung als in Zeiten ruhigerer Entwicklung 
genügend erscheinen würde. Kräfte genug sind am Werk, 
die diese Reformen verhindern wollen; so müssen die Vor¬ 
wärtsdrängenden kämpfen und als Hilfe für ihren Kampf 
öffentliches Interesse erringen. Aber audi dieses Interesse 
enthält keinerlei Schätzung der Kampfobjekte in sidi. Man 
kann die ganze Pädagogik für recht unnütz, ihre Ziele für 
unpraktisch, ihre Mittel für unbraudibar halten und sidi 
dennoch für den Kampf gegen das Gymnasium ereifern, weil 
man dieses als schädlich, als altmodisch, als wichtigen heutigen 
Bedürfnissen abträglich erkannt hat. Und das öffentliche 
Interesse am Erziehungswesen reicht tatsächlich nur so weit, 
als es gilt, schädliche, überffüssige Relikta in vielleidit nütz¬ 
liche, aber in vor allem unschädliche neue Formen zu ver¬ 
wandeln. Mit Bejahung der Ziele der Pädagogik, mit Glauben 
an ihre Mittel, mit hoher Wertung ihrer Tätigkeit und 
ihrer Menschen hat dies Interesse nichts zu tun. 

Daß den Pädagogen diese Situation nicht voll gegenständ¬ 
lich werden will, daß sie sich und ihre Tätigkeit ernst, wichtig 
nehmen, ja daß sie sie überschätzen, wie die Wydenbruchs 
finden, wäre nidit allein verständlich, sondern unbedenklich. 
Man dürfte ihnen so gut wie Metallarbeitern, Schreber¬ 
gärtnern, Ärzten gönnen, daß sie ihre tüchtige Arbeit höher 
schätzen, als jede andere gleich tüditige Arbeit. W ir über¬ 
schätzen, was wir lieben, und finden, daß der andere seine 
Liebe überschätze. Bei den Pädagogen handelt es sidi aber 
nicht um diese selbstverständliche Haltung. Ihre Selbstsdiätzung 


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hat Formen und vor allem, sie hat Inhalte, die aufregend 
sind. Ist es wahr, was die Baronin in Fröbels Namen ver¬ 
spricht? Das muß festgestellt, das muß entschieden sein. 
Hier handelt es sidi um keine Kleinigkeit. Da wird die Er¬ 
lösung der Menschheit versprochen un d hier sitzen die 
Herren v. W., ladieln kühl und verhindern die versprodiene 
Erlösung. Das ist kein Scherz. Und das muß doch entsdieid- 
bar sein. Hat Fröbel recht? Nidit ob seine Ideen schön und 
wünschenswert sind, sondern ob seine Behauptung wahr ist, 
daß sie realisierbar seien, das ist die Frage. Und das wenig¬ 
stens müßte geklärt werden, ob sie überhaupt entscheidbar 
ist. Denn Fröbels Wahrheit erwiese den skeptischen Minister 
nicht mehr als klugen, gewandten Empiriker, sondern als 
den Feind. Hat der Minister aber recht, sind des Fröbels 
Versprechungen falsch, übertrieben, demnach seine, der Päda¬ 
gogik, Lehre unwahr, so folgt daraus nidit, daß die Päda¬ 
gogen sich besdieiden müßten, widrigenfalls sie dein Fluch 
der Lädierlidikeit verfielen, sondern die Pädagogik als 
Ganzes hätte sich ein Revisionswerk gefallen zu lassen, das 
einem hodinotpeinlidien Prozesse ähnlidi wäre. Sie ist im 
Verdacht, ungeheueren Aufwand an Kraft, Zeit, Geld, an 
Kinderglück und Elternsorge sinnlos zu vertun. Die Mög¬ 
lichkeit zeigt sidi an: die Pädagogik verhindert vielleicht die 
Zukunft, die sie verspricht. 

Diese Möglichkeit enthält einen schweren Vorwurf gegen 
die Pädagogik. Soll sic, da er einmal ausgesprochen ist, ganz 
und gar von ihm freigesprochen werden können, so muß 
die Untersuchung sehr streng geführt werden. Es ist im 
Interesse der Pädagogik selbst, daß die Untersudiung par¬ 
teiisch, mit Voreingenommenheit gegen sie geführt werde, 
denn was dann nach solcher Untersudiung zu ihren Gunsten 
ausgesprochen wird, das ist es dann um so sicherer und 
gewisser. Idi werde mir daher erlauben, etwas von der skep- 


6 



tisdien, ironischen, ja feindseligen Stimmung gegen die Päda¬ 
gogik, das hinter jenen pessimistisdien Worten des Ministers 
steht, in der vorliegenden Untersuchung festzuhalten. Aber 
es wäre nidit nützlidi, sidi dieser Stimmung etwa auszuliefern. 
Nidit nur der Grundverdadit aller Niditpädagogen kommt 
in jenem Gesprädi zum Ausdruck; sondern diese selbst ver¬ 
raten sidi in ihm als nidit minder verdächtig. Herr von 
Wydenbrudi glaubt nidit an die Fröbelsdie Methode. Wenn 
er aber an sie glaubte, würde er sie verbieten, denn ihre 
Ziele sind gefährlich, sie sind Revolution. Man hat eine 
Zeitlang Fröbels Methode verboten; man hat sie später 
wieder gestattet, ja man hat sie gefördert. Offenbar erwies 
sich in diesem Fall Wydenbrudis Skepsis als berechtigt. Aber 
wie, wenn sie es nidit wäre ? Wenn wirklidi die Wyden- 
brudis schuld daran sind, daß die großen und ewigen Ziele 
nicht erfüllt sind bis heute? Wenn die Mensdien ein für 
allemal sind, was sie sind, nur weil man sie verhindert, etwas 
Besseres zu werden? Die Pädagogik behauptet es. Die Ent¬ 
scheidung ist dringend. Und audi gegen die Wydenbruchs 
ist Voreingenommenheit am Platz. Merkwürdig bleibt nur, 
daß die Entsdieidung nidit längst schon getroffen ist. Daß 
in dieser gewiß wichtigen Frage nodi immer Vorwurf, Ver¬ 
dacht, Unsidierheit möglidi ist. Man vergegenwärtige sidi die 
Medizin in der Situation der Pädagogik. Einer verspricht, die 
Menschheit vom Krebs zu heilen. Sogleidi wird geprüft und 
geforsdit. Nidit immer ist sogleich ein Entscheid gefunden. 
Aber ein umfangreicher wissenschattlidier, gesellsdiaftlidier 
Apparat dient dem Zweck, hier zu entscheiden. Er hat gesell- 
sdiaflliche Autorität für seine Urteile. Kein Wydenbrudi 
kann sagen: „Es w r äre schön - aber ich glaube es nicht.” 
Hier ist eine legitime Instanz, die ihn in seine Grenzen 
weist: die Wissensdiaft Medizin. Und wo die bestehende 
Ordnung, eben jene, die von den Wydenbruchs geschützt wird, 


7 


der V erwirklidiung dieser Entscheidung sich entgegensetzt, 
also etwa dem gefundenen Heilmittel sein hoher Preis, dort 
'vird diese Tatsadie den Gegnern dieser Ordnung zum 
Argument, Motiv, zur Idee. Der Pädagogik fehlt diese 
legitime Instanz. Sie ist nicht anders als in den ersten, 
tastenden und undeutlichen Ansätzen vorhanden. Der Ent¬ 
wicklung einer Erziehungswissenschaft stehen starke Kräfte 
entgegen. Es fehlt nodi beinahe ihr BegrifT, gewiß die all¬ 
gemeine Bereitschaft, in Erziehungsdingen wissenschaftlich zu 
denken. Die Frage, welches die Grenzen der Erziehung 
sind, ob die Fröbels, ob die Wydenbrudis recht haben, 
ist aber eine wissenschaftliche, kann nur wissenschaftlich ent- 
sdueden werden. Man kann der Erziehung Grenzen setzen, 
\Vydenbrudi tut es; diese ihr gesetzte Grenze ist aber nicht 
i re; man kann ihr Grenzen wünschen, oder auch keine 
wünschen, Fröbel tut es; und dennoch hat sie ihre, die viel- 
leidit ganz andere als diese gewünschten sind. Es handelt 
sidi um eine Frage des Tatbestandes, von allen Zielen, Wün¬ 
schen und Absichten unabhängig. 

Unter allen gesells*a£lH*en, kulturellen Tätigkeiten ent¬ 
behrt fast allein die Pädagogik dieser Tatbestands-Gesinnung: 
der CV issensdiaillidikeit. Sie steht beinahe auf der Entwidt- 
btngsstufe, welche die Medizin inne hatte, als Heilkunst und 
e. tussensdiaft voneinander unabhängig bestanden, ja als 
d.e Heüwissens*aft nodt nicht erfanden war. Au* damals 
wurde Heilverfahren geübt, au* damals wurde sogar geheilt. 
Denn m Urzeiten rekht das Heilen zurück: ir g end ein Tun, 

T u s Reak “ 0n d6S Mensthen auf absonderli*es, 
merzhaftes, gefahrdrohendes Körperverhalten, das man*- 

ma den Erfolg hatte, dies gefährliche Verhalten zu ver- 
in das gewohnte zurüdtzuverwandeln. Aber die 
* littel dieser primitiven, animistis*en Medizin hatten an si* 
m*ts mit dem Heilerfolg zu tun. Sie waren aus irgend 
8 























r 


welchen Motiven entstanden, durdi irgend welche Faktoren 
determiniert und aus irgend welchen, aber jedenfalls aus 
außerempirischen Gründen war mit ihnen der Glaube an 
den Heilerfolg verknüpft. Mißerfolge verringerten nicht den 
Glauben an das Mittel, sistierten nidit dessen Gebrauch; 
denn es befriedigt, unabhängig von aller Empirie, die seeli¬ 
schen Bedürfnisse, aus denen es entstand, abergläubische 
Vorstellungen etwa, religiöse Neigungen oder unbewußte 
Schuldgefühle. Gewiß haben die Mittel, ihre Wahl, ihr Ge¬ 
brauch Ursachen; aber diese sind nicht der vorgebliche Zw eck: 
die Krankheit zu heilen. So erscheint, um ein Beispiel zu 
geben, in dem sich Medizin und Pädagogik nachbarlich 
berühren, den meisten primitiven Völkern und den bäuer¬ 
lichen Schichten auch der kultiviertesten, das Zahnen der 
Kinder als ein überaus bedenklidier und gefahrvoller Prozeß, 
gegen dessen feindliche Gewalten das Kind zu schützen eine 
dringende Aufgabe ist, und zahllose Riten werden ängstlidi 
und sorgfältig eingehalten, wenn das Kind sidi dieser sdimerz- 
lidien 1 eriode nähert. Es sind rcdit sonderbare darunter, 
wie der Brauch, der von den Steiermärkern beriditet wird: 
wenn das Kind zu zahnen beginnt, hat seine Mutter einer 
lebenden Maus den Kopf abzubeißen und den abgebissenen 
Mauskopf an einem Seidenfaden dem Kind um den Hals zu 
binden. Die Wissenschaft hat uns gelehrt, daß das Zahnen 
völlig ungefährlich und sein Verlauf von allen Mäuseschick- 
salen unabhängig ist. War der Zweck des Ritus wirklich die 
Sicherung des Kindes, so haben Tausende von Mäusen 
gänzlich vergeblich Kopf und Leben gelassen. Und wer w 7 eiß 
wie viele Heil- und Erziehungshancllungen, die wir harmlos 
und hoffend heute nodi üben, zwar weniger auffällig, aber 
ebenso zwecklos sind wie diese. Die Medizin entsteht als Formu¬ 
lierung, Prüfung, Modifikation solchen Tuns, bemüht das Tun 
nadi seinem Zweck: der Heilung, zu rationalisieren; jede 


9 


















Heilhandlung mit ihrem einzigen sinnvollen Zweck, der 
Heilung, in Übereinstimmung zu bringen. Eine Handlung, 
die diesen Zweck nicht erreidit oder fördert, gilt als falsch 
und unriditig, als Aberglauben, wieviele andere Zwecke 
immer sie befriedigen mag. Unsere heutige Medizin ist mit 
jener animistischen verglidien, in hohem Grade rationalistisch, 
zweck-rational. Unsere Gesellsdiaft ist es auf allen Gebieten 
mehr als irgend eine frühere. 

Die Erziehung aber gehört zu jenen ihrer Gebiete, die am 
wenigsten weit und am wenigsten tief von diesem Ratio¬ 
nalisierungsprozeß ergriffen sind. Sie ist, nicht anders als das 
Heilen, so alt wie die Menschheit, nodi älter sogar, denn 
auch bei Tieren laufen gesellschaftliche Prozesse ab, die 
nur als Erziehung zu deuten sind. Audi gelegentlidie 
Reflexion und Formulierung - deskriptiv und normativ - 
über dies oder jenes Faktum der Erziehung ist recht alt, 
aber nur sehr allmählich wird solches Nachdenken umfang¬ 
reicher, tiefer, kohärenter. Und sehr spät und sehr unvoll¬ 
kommen gewinnen diese Reflexionen, die sich zu einer Päda¬ 
gogik ordnen, einen bestimmenden Einfluß auf die Erziehung. 
Im europäisdien Kulturkreis beginnt die einigermaßen um¬ 
fassende Pädagogik in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahr¬ 
hunderts, nadidem ihr Partialrellcxionen, de ratione studendi 
der Hochschulen, des Elementarunterrichts, der Mutterschul, 
der I ürstenerziehung, der Erziehung vornehmer Jünglinge 
- was allein Lockes und Rousseaus Gedanken im Grunde 
bezw ecken seit etlichen Jahrhunderten voraufgegangen \ 
und sie ist in der Gegenwart noch keineswegs am Ende 
audi nur ihrer Extension angelangt. 

Sinn und f unktion der Pädagogik ist die Rationalisierung 
der Erziehung. 

Aber gerade als Rationalisierungsinstanz ist sie in keim- 
haftem Zustand jung, unentwickelt, unentfaltet, schwach. Ja, 



10 


etwas ist in ihrem Zustand, — infolge ihrer kurzen, aber 
recht bedenklichen Gesdiidite - das die Rationalisierung 
der Erziehung gerade durch die Pädagogik gefährdet. 

Wollen wir die fortschreitende Rationalisierung Fortschritt 
nennen, so vollzieht er sich in zwei Sdiritten. Der erste ist 
die geistige Tat eines einzelnen Mannes; der zweite ist die 
reale Veränderung des bisherigen Verhaltens von vielen, zahl¬ 
losen, der Idee nach von allen Menschen. Comenius erfand 
das Bilderbuch; Millionen Lehrer, Mütter, Menschen ver¬ 
wendeten es anstatt des vorher 0 blichen. Die geistige Tat - 
so geringfügig sie sein mag, so bedeutungslos gegenüber 
anderen Taten — ist ihrer Struktur nadi eine solche. Sie 
verlangt vom Täter den Mut, sich von einer hergebrachten 
Ansdiauung zu befreien, und die Phantasie ein Neues zu 
denken. Die Pädagogikleistung aber hat einen Bezug aut 
gesellschaftliches Tun, auf Tun in der Gesellschaft wenigstens. 
Der Täter muß daher nodi ein Drittes leisten: die An- 
sdiauung, von der er sich befreit hat, muß unzweckmäßig 
gewesen sein, die neue, die er erdadite, muß sidi als zweckmäßig 
bewähren. Was immer der Zweck sei, einer muß hier sein, 
denn man diditet nidit Pädagogik, sondern denkt sie. Nur 
dann fügt sich seine Überwindung und seine Neuerung in 
die Rationalisierungstendenz, die allem Cesellsdiaftlidien 
innewohnt, gehört nur dann sensu strictu zur Pädagogik. 
Womit wohlverstanden kein Wert gesetzt, sondern bloß 
ein Kriterium für eine besdieidene Entscheidung gefunden 
ist. Der erste Teil des Zweisdirittes ist individuelle geistige 
Leistung. Die sie vollziehen, werden durch den Namen 
der „großen Pädagogen” ausgezeidmet. Wir nennen 
sic Padagogiker sdiledithin, denn groß sind sie aller- 
meistens nidit gewesen, und die es waren, am wenigsten 
als Padagogiker. 

ln der Mathematik, in der Diditkunst ist die Figur mit 


11 



nllT n di '! dUe " C '’ Leistung gesdlloss “- ln der Erziehung 

w 'djtiger, der erste oder 

sind der Fortschritt. Der Pädagogiker" die G e^ h 

srsr e i"t es ’ sii *■-* 

nid« Ra«o ,• , UCS ’ S ° d “ kt " 868en das Übliche, nodt 
nid« nationalisierte, gegen das Gewohnte seiner Zeit - es 

■st seine Tragik oder Komödie, daß sein T ’., 

Gefolgschaft bedarf, um vollendet zu « J 

seinem Fall die r ,, zu seln ' Ls sind alle in 

lieber " Ungeduld - an^tf d ^ « 

Kulturbewegung, die mitten in ihrem^Schtltt" 

steht, in Gefahr umzufallen - f ri> . , schwankend 

Vollendung des Fortschrittes? Macht "T beS ' lmmt die 
und Leistung des Täters, übt er Herrschaft”"'"'’ Char ‘ Sma 
er die Abschaffung des bisherigen die V ‘u“™ 1 "' 1 
neuen Braudies. Oder was dasselbe I , rklldlun 8 des 
Instanz muß sich seiner Leistung bemal"* Herrs<hafts - 
seiner sie e,-zwingen. Es ist dies ein ha « 801 Und statt 

Erfinckingen der Pädagogiker. Wo ..„.l" ''"’ S<hidtsal der 
geschieht oder dem Wesen nach gar nicbt 80 '**'! daS nl<ht 
findet die freiwillige Annahme durch ein , 8esdlehen kann ’ 
bald zu großen Gruppen und gigantischenZahl "*** ^ ^ 
mögen. Sie wird um so schneller sein, * e ** Vermehren 
gestützt ist durdi Autorität - der RelL^ mehr das Neue 
tiefer wirksam das Charisma des Pädagogiker« ~ ° der jC 
schließlich abhängen vom Wesen seiner Leist u ^ ^ Vird 
Ablehnung ganz einfach bereditigt, ob seine^ v ^ SCin( ‘ 
richtig, ob seine Leistung nützlich ist. Die ZusL Neue nmg 
sind kompliziert und fein gegliedert. Ich brecheT*™ 86 
denn schreibe idi weiter von ihnen, w ozu Interesse „ 7^ 
vielleicht vorhanden ist, stehe ich in einem WirhÜJ ^ 
Gefahren: entweder unerlaubt, läppisch zu simpfej7°° 

12 Cren 























oder in unverständlich konzentrierten Andeutungen zu 
geheimnissen oder — sdilimmster Wirbel, in den es ziehen 
will — allgemach am breiten Ufer der Soziologie der Erziehung 
zu landen, von Forschern nodi kaum berührter Boden, auf 

dem man nicht weiß, wie lange ein Entdeckungsstreifzug 
dauert. 

Es will nur betont sein, daß die Pädagogik ihre Funktion 
noch weniger erfüllt hat, als nach ihrem heutigen Umfang 
bereits anzunehmen wäre. Wir werden daraus die Frage 
ziehen, was die Gründe hiefür sind. Wir werden sie zu aller¬ 
erst in der Pädagogik und ihren Schöpfern suchen. Denn 
offenbar fehlt etwas an Macht, Autorität, Charisma oder 
Wahrheit. 

Man wird vielleicht finden, meine Argumentation sei schief. 
Keineswegs bestehe eine ungewöhnlich große Kluft zwischen 
Pädagogik und Erziehung. Audi diese habe, ein wenig lang¬ 
samer, ein wenig verwickelter als jene, „denn hart im Raume 
stoßen sich die Dinge”, aber erfreulidi und unaufhörlidi im 
letzten Jahrhundert Fortschritte gemacht und man wird sich 
vielleicht erbieten, dies an der Geschichte des Schulwesens 
zu beweisen. Darauf helfe ich mir und unserer Sache weiter, 
indem ich zunächst auf Präzision in terminologischen Dingen 
bestehe. Und zwar auf einer, die in theoria nidit im 
geringsten fraglich ist, die jeder zugesteht, daß nämlich Unter¬ 
richt nicht dasselbe sei wie Erziehung und Unterrkhtslehre, 
Didaktik, demnach nicht das gleiche wie Pädagogik. Völlig 
unbestritten ist diese Untersdieidung. Ebenso völlig mi߬ 
achtet. Man spricht von Erziehung, man weiß, eiklärt, daß 
Unterridit nur ein Teil von ihr sei, und bleibt des weiteren 
ausschließlich bei seiner Erörterung, hat ihn allein vor 
Augen. Ja, niemand wird zögern, im System der Pädagogik 
nur einen eng abgemessenen Raum der Didaktik neben 
vielen anderen, zum Teil wichtigeren, geräumiger unter- 


13 





























zubringenden Disziplinen zuzuweisen, und dodi ist sie allein 
bequem, luxuriös geradezu untergebradit und alles übrige 
muß in einer winzigen, dunklen Kammer hinsicdien. Ich 
gönne der Didaktik ihren Lebensstandard, idi will sie nidit 
als unförmlichen Auswuchs an der kümmerlidien Mutter 
Pädagogik beschimpfen, aber ich wünsdie deren gran¬ 
diose Entfaltung, so daß die Proportionen in ihrer 
natürlidien SdiÖnheit gewahrt bleiben. 

Dennoch ist der Hinweis auf die Didaktik dankenswert. 
Ihre Beziehung zum Unterricht ist tatsächlich wesentlidi näher 
dem Durdischnitt von Rationalisierung, den unsere Gesell¬ 
schaft erreicht hat, als die der übrigen Pädagogik. Und dieser 
Gegensatz ist überaus Ichrreidi. Er ist höchst erstaunlich, 
denn er widerspricht strikte einer Annahme, die weit-, bei¬ 
nahe allverbreitet und dennoch erkenntnisverhindernd ist. 
Man, wir alle sind es, ist geneigt, den Ausbildungsgrad, die 
erreichte Höhe einer Wissenschaft, Kunst oder Kunstfertig¬ 
keit in direkter Abhängigkeit von den Qualitäten der 
Menschen zu denken, die sich ihr widmeten. Nur unwesent¬ 
lich korrigiert ist solche Neigung durch ein vages Zuge¬ 
ständnis von gewissen fördernden und hemmenden Ein¬ 
flüssen des Zeitgeistes, der Gesellschaft, wirtschaftlicher Fak¬ 
toren. (Diese leichte Unsicherheit ist Folge der Marxsdien 
Einsichten; aber nicht mehr als Ahnung von peripheren 
Kräften, die weiter nicht einzusetzen sind, für den Gemein¬ 
gebildeten.) Und nun ist zweifellos: es gibt keinen Didak¬ 
tiker, der über seine Leistung hinaus sichtbar geworden 
w r äre, der menschliche Größe aufwiese, der irgend ein Inter¬ 
esse an skh und seiner Sache über den engsten Kreis der 
Fachgenosscn hätte erw erben können. Charisma ist ihnen 
nidit geschenkt. Und trotzdem ist in dem Sinn, den wir hier 
vergleichen, ihre Wirkung größer als die der bedeutenden 
Pädagogen, unter denen sidi Gestalten von Format und 


U 



hoher Qualität finden — wenn audi keiner zu den Größen 
ersten Hanges gezählt werden darf. 

Freilich fördert die Wirkung der Didaktiker, daß sie Auto¬ 
rität von Größeren leihen, als sic selbst sind. Denn diese, 
Gomenius, Rousseau, Pestalozzi etwa, weit davon entfernt, 
Didaktiker zu sein, haben doch die Grundsteine für den liau 
der Untcrriditslchrc gelegt; mancher entscheidende, revolu¬ 
tionierende Anstoß ging von solchen Denkern aus, die nur 
gelegentlich, für kurze Zeit, durch ein einziges Werk sidi der 
Didaktik zuwandten. Unter deren Namen wird das Werk 
geführt. Man muß aber die Förderung, die die Didaktik 
durch diese ihre Schutzpatrone erfährt, nidit zu hoch cin- 
schätzen. Der Bezug ist beinahe umgekehrt. Da ist der Mann 
Pestalozzi, liebenswürdigste Menschengestalt, groß als Gemüt 
und Seele, ungewöhnlidier Geist, mit außerordentlichen 
bindenden und erziehenden Kräften begnadet. Sein halbes 
Leben — ein Halbjahrliundcrt fast — Kindern gewidmet. Und 
es war ihm gegönnt: wahrhaft revolutionäre Ideen und 
Erfindungen sind ihm geglückt. Und von dieser Fülle ist ein 
einziges in die Realität der Erziehung übergegangen, dieses 
auch zur Unkenntlichkeit sdion von der ersten Sdiüler- 
generation entstellt, aber doch eben von ihm ausgegangen, 
sein didaktisches Werk. Sein nebensädilidistes gewiß, sein 
falschestes vielleicht und vor allem jenes, das von ihm selbst 
nur im Zusammenhang des größeren, gesamten Werkes als 
ein Werk, wenn auch als recht geringes, eingeschätzt wurde. 
Das gibt zu denken. Tausendfach, weil dies typisches Schick¬ 
sal der Lehren großer Pädagogen ist. 

Für die Wirkung der Didaktik, wie wir abgekürzt und 
kaum mißverstandlidi für jenen zweiten Schritt des Rationali¬ 
sierungsprozesses sagen, ist demnach nidit das Charisma des 
sdiaffenden Einzelnen entsdieidend. Diese Tatsache rückt die 
Didaktik in den gescllsdiaftlidien Rang der Bienenzucht etwa, 


15 



wird man veräditlidi sagen. Gewiß, doch keinerlei Mißachtung 
ist am Platz. Sie rückt die Didaktik in den Rang eines 
bescheidenen, sachlichen Mittels zu entwickelnder Umge¬ 
staltung eines vorhandenen gesellschaftlichen Brauches aus 
seinen (zweckbezogen) irrationalen Traditionen zu rationalem 
Tun oder audi Lassen. Die Bienenzucht mag in der Staffel 
der GeseUsdiaftswerte tief unten, die Didaktik mag ganz 
oben auf goldenen Stühlen thronen - manche lieben Honig 
und hassen die schmähliche Bemühung, Kindern das bei¬ 
zubringen was sie durchaus nicht lernen wollen; aber viel- 
euht srnd dies; Sonderli„ ge - dies verlangt seine eigene 

unng s, dierhdi aber ist die Bienendidaktik, die Honig 
serspndtt und deren Befolgung dem Adepten Honigsegen 

dumm b T aI h "r PhiCdidaktik . bei der die Kinder 
dumm bleiben. Aber sddießlidi ist das . 

Wertungssache. Entscheidend wird seTn h 

diesem Rahmen, der ihr gesetzt zu "’ ? U ' daktik si * 

will; ob sie sidi bcscheidet zu sein ° m sdleint ’ einfügen 

dies dann voll, voiikommen und T n u * ^ kann - ™ d 

oder ob sie über diesen Rahmen hinaus t”i, et 2 “ werden ; 

sie meinen, — aber in Wahrheit in Iäche \ <u ~~ lmauf wird 

heit das Höhere gewiß nicht, und ihr e'^ \ t ^ uf geblasen- 

erfüllen ward. ed a uch nicht 

.Aber wir gingen ja davon aus, daß der Did t- 
Stück Rationalisierung gelungen ist, sie ihre 4 * ein gUt 
Möglichkeit in Angriff genommen hat, und d U .[ 8abe ’ ^ 
ereignet, trotzdem ihr die großen Menschen f hl ^ ^ 
dem sie höchstens die Wendepunkte bezeidi ^ trotX ~ 
das vor allem an zwei Tatsachen: die Mitarbeit” ^ 
der Didaktik wachsen aus einer bestimmten Fl r ** 1 
ünd ihre Aufgabe ist prüzis „nd kontrollierbar, w”" 

s^ehen 0 ^ sic !tü, ' 0n ^ lsierun S gcsellsdiaftlidien Tuns 
‘ . «e an diese beiden Bedingungen geknüpft. Der 

16 


























Unterricht liegt in Händen des Lehrers; Unterriditen ist eine 
Berufstätigkeit. Die Didaktik ist die Anweisung für diesen 
Beruf, ist Berufslehre. Ganz anders die Erziehung. Sic liegt 
auch nicht zum geringen Teil bei einer Berufsgruppe. 
An ihr sind zahlreidie Kräfte versdiiedenster soziologischer 
Situation beteiligt — wir werden die Analyse dieser ver¬ 
wickelten Beziehungen noch in Angriff nehmen müssen — in 
erster Linie die Eltern, die zwar einen Beruf haben, aber 
nidit den: Kinder zu erziehen. 

Die Aufgabe des Lehrers ist präzis: er hat zu unterrichten, 
und zwar einen bestimmten Stoff, in einer bestimmten Zeit, 
an bestimmte Kinder. Der Erfolg seiner Tätigkeit ist kon¬ 
trollierbar. Jederzeit ist feststellbar, ob die Schüler den zum 
Prüfungsterminc fälligen Stoff beherrsdien. Der Lehrer wird 
durch Prüfung seiner Schüler geprüft. Die Verhältnisse liegen 
hier denkbar erfreulich, einfach, klar, übersichtlich. In der 
Realität, heißt das. Die Pädagogik gibt sich äußerste Mühe, 
diese nüchterne Einfachheit ideologisdi zu verzieren, diese 
harte Klarheit armselig zu vernebeln. Sie verlangt z. B., der 
Lehrer solle nicht nur unterrichten, sondern auch vor allem: 
erziehen. Nur eben leider, daß sie nicht zu sagen w r eiß, wie 
das zu gesdiehen habe, während die Didaktik sehr viele 
Methoden kennt und lehrt, durdi die de facto, unerörtert, 
ob sie die besten sind, die überwiegende Mehrheit aller 
Schulkinder der Welt das Lesen erlernen; nur leider, daß 
sie kein Kriterium besitzt, festzustellen, ob dieser kleine 
Junge oder jenes kleine Mäddicn „erzogen” ist, während die 
Güte der Didaktik mit wenigen Fragen geprüft werden kann : 
hier lies dieses Buch und zeige, ob Pestalozzi recht hat, der 
dich lesen gelehrt hat. ln so gefährliche Dileminen gerät die 
Pädagogik: wenn etwas an ihren Lehren Erkenntnis ist, so 
gewiß jene, die zeigt, daß in dieser Schule, wie sie nun eben 
ist, der Lehrer nicht erziehen kann — und sie fährt fort, 


Rcrnfeld, Sisyphos 2 


17 






























anstatt andere Schulen zu erzwingen, vom Lehrer zu verlangen, 
er solle mehr tun, als bloß unterrichten. 

Der Lehrer möchte dies vom Herzen, wenn es erlaubt 
wäre, jenen, der aus idealen Motiven Lehrer wurde, als den 
Lehrer zu bezeichnen. Aber indem er Lehrer wurde, traten 
zu den idealen Motiven, die ihm jenen Wunsch diktieren, 
die sozialen und Ökonomischen Motive, die bei den anderen 
für die Berufswahl entscheidend waren, hinzu und werden 
nun seine Motive, Lehrer zu bleiben, die Laufbahn, die 
innerhalb dieses Berufes offen ist, zu erfüllen. Angesichts 
der faktischen Unmöglichkeit, mehr zu tun, als zu unter¬ 
richten - und dies scheint ihm zu wenig, wir sprechen ja 
von den Hodimütigen - hat er die Wege frei: sich zu 
täuschen (wie leicht ist das! weiß der Lehrer doch nicht, 
was die Kinder außer seinen Stunden denken) und zu 
glauben, er verwandle ihre Charaktere im Sinne seines 
erhabenen Erziehungszieles; oder sich zu sorgen, sich zu 
verachten, herabzusetzen, zu verärgern und zu verbittern im 
Laufe der Jahre 5 oder auf die höheren Aufgaben zu ver¬ 
zichten und sidv zu bescheiden, ein Unterriditer zu sein. 
Jeder Weg findet seine Wanderschar. Aber, wie immer er 
sich abfinde, eins muß er leisten: erfolgreich unterrichten. 
Und demnach von der Didaktik Gebrauch machen, sein Tun 
rationalisieren, festhaltend an dem ihm Überkommenen, er 
verhindert so Rückschläge vom erreichten Rationalisierungs- 
Standard; oder neuernd, sei es selbstschöpferisch, sei es den 
zeitgenössischen Schöpferischen folgend, er fördert so zu 
seinem Teil den besagten gesellschaftlichen Prozeß. 

Durch den Beruf — seine Ökonomisch-sozialen Gegeben¬ 
heiten — erzwingt sich die Gesellschaft von einer zahlreichen 
Mensdiengruppe, alle ihre individuellen Neigungen und 
Motive niveUierend, eine bestimmte Leistung auf einem 
bestimmten Rationalisierungsstandard, Ob einer Lokomotiv- 




f(ihrer wurde, weil sein Kindertraum der Bändigung des 
Masdiinenungcheuers galt, oder weil sein Vater oder Onkel 
es war oder nicht wünschte, weil das Einkommen groß, oder 
das Ansehen bcträditlidi ist, weil es ihn lodet, ferne Länder 
zu sehen oder fremde Menschen hin zu führen, ob er ent- 
täusdit oder befriedigt ist, resigniert oder hoffend — er führt 
seine Lokomotive sicher und arbeitstäglich von Remise zu 
Remise. Und nur auf diese Leistung kommt es der Gesell¬ 
schaft an, um ihretwillen wird er entlohnt und über sie 
hinaus darf er völlig frei sidi freuen oder verzweifeln. Diese 
Leistung oder Hungertod ist letzten Endes die Alternative. 

Wo Gründe sind, die geforderte Leistung zu verschleiern, 
braucht es nur dieses Kriteriums, um sie recht zu erkennen: 
was leistet der Beruf? Das Schulprograinm verlangt einleitend 
vom Lehrer die Erziehung zum sittlich-religiösen Menschen 
— und zählt dann die Fädier und den Stoffplan auf. Keines¬ 
wegs leistet der Lehrerberuf die einleitende Forderung. Der 
sittlich-religiösen Menschen gab es anno 1224 kaum weniger 
als 1924. Aber damals gab es so viel des Lesens Kundige - 
vielleicht — als heute Analphabeten. Der Gesellschaftsgott 
lächelt versdimitzt — es kränkt ihn nidit; er ist nidit böse 
auf seine Lehrer. Sie taten ihr möglidistes und ärgerten und 
mißachteten sidi brav. E r wollte ja nidit mehr, als daß sie 
ihn von Analphabeten befreiten. S i e wollten das von den 
sittlidi-religiüsen Menschen. Er gönnt ihnen den Spaß. Sie 
hätten sidi vielleicht sonst gar nidit bemüht für 1200 Mark 
das Jahr. 

Die Präzision und Kontrollierbarkeit der Aufgabe und die 
Berufssituation des Lehrers fördern die Rationalisierung des 
Unterridites in erster Linie. Sie führen zur Verwirklichung 
der theorctisdicn Rationalisierung: Didaktik. Diese selbst 
verfährt prinzipiell wissensdiaftlidi. Sie ist keine W issenschaft, 
wenn wir das Wort in einem terminologisch strengen Sinn 


19 





fassen, sie mag Teil einer Wissenschaft sein oder Teile ver¬ 
schiedener Wissenschaften zu einem praktischen Xweile, nach 
einem praktischen Einteilungsgrund zusammenfassen — jeden¬ 
falls hat sie nahe Beziehung zur Wissensdiaft und arbeitet 
m it wissenschaftlicher Methode und wissenschaftlicher Frage¬ 
stellung. Sie verfährt empirisch und diszipliniert; und sie 
geht auf die Feststellung gesetzlicher Zusammenhänge aus. 
Wenn ein Lehrer behauptet ~ oder in einer traditionellen 
Lehrweise solche Behauptung impliziert ist - den Sdiüler 
eine Regel merken zu lassen, sei nötig, sie ihm dreimal vor- 
zusprcchen, so wird sie diese Behauptung prüfen, indem sie 
genügend zahlrcidie Erfahrungen sammelt, und es wird für 
sic entscheidend sein, ob die Behauptung sich empirisch als 
zu Recht erweist. Sie wird dabei völlig absehen davon, ob 
die Tradition dies Verfahren geheiligt hat, ob cs dem Tem¬ 
perament, den \V ünsdien, der Bequemlichkeit des Lehrenden 
entspridit, sie v ird bemüht sein, Fehlerqueilen, inbesondere 
die aus der Subjektivität fließenden, zu verstopfen, sie wird 
ihr Ergebnis vermittels disziplinierten Denkens erreichen und 
sichern, im Gegensatz zum naiven, das von subjektiven Er¬ 
fahrungen, Wünschen, Normen durchsetzt ist und das das 
traditionelle Verfahren und Meinen fundierte. Sie wird aber 
zugleich dahin tendieren, ihre Ergebnisse allgemein zu sichern, 
über Lernen, Interesse und alles w T as damit zusammenhängt, 
zu gesetzlichen Einsichten zu gelangen. 

So wäre also die Didaktik eine musterhafte Disziplin der 
Pädagogik? Es kann nidit so sein, denn die didaktische 
Literatur läßt trotz allem letztlich und tief unbefriedigt. 
Formal: die bescheidene Hingabe an ein Sachliches; das harte 
Bemühen im Wirbel der Affekte, im diditverflochtenen Bei¬ 
einander von Wunsch und Gedanke, das subjektive 
Erwarten und Werten zurückzu drängen; das Mittendrinstehen 
in unendlichen Zusammenhängen und u»übersehbar zahl- 


20 






losen Bezügen bei der Bctraditung audi des winzigsten 
Bruditeils der Realität, der Forschungsgegenstände; die 
unvergeßliche Einsicht in die Fehler und Grenzen unserer 
Methoden und unseres Geistes; das bleibende lebhafte Gefühl 
von nodi nicht gedaditen Möglichkeiten — wir sind gewohnt, 
wir verlangen einen Niedersdilag all dessen, einen Abglanz 
dessen in der bescheidensten- periphersten, unwiditigsten 
wissensdiaftlidicn Untersudiung zu finden und wir entbehren 
diese reizvolle Patina der wissenschaftlichen Edithcit am 
gesamten didaktisdien Schrifttum, es starrt uns nackte 
Langeweile entgegen. Und solch Eindruck aus der ästhetisdicn 
Sphäre - oder reicht er nicht dodi aus der tieferen, sitt¬ 
lichen, hervor? - madit uns mißtrauisch gegen den Inhalt. 
Läßt uns inhaltlich unbefriedigt. Uns sdircckt der Aufwand, 
er hat nichts Glaubwürdiges. Es wehrt sich etwas in uns, zu 
glauben, hinzunehmen, daß Redmen, Lesen, Sdireiben, 
Modellieren - daß dies alles so verzwickte, so undurdi- 
dringlich schwierige Künste sein sollen, daß drei Folianten 
von 1500 Seiten, Extrakt von 120 Seiten Bibliographie, 
gerade genug zur Einführung in diese M issenschaft sind. 
Aber wir erschrecken nidit minder, sind ebenso keinen 
Augenblick vom Gefühl der Unglaubwürdigkeit und Inadäquat¬ 
heit verlassen, weil alles so schrecklidi einfadi ist, so lächer¬ 
lich simpel ist: ein halbdutzend einfadier Tests — und Intel¬ 
ligenzalter, Entwicklungsstufe, Zukunft und Begabung sind 
amtlich bescheinigbar. Wir protestieren hier wie da. Oder 
sind wir unwissenschaftlich bei solchem Verhalten ? Gestatten 
wir — undiszipliniert — Affekten Einbrudi in die Wissen¬ 
schaftssphäre ? 

Nun es läßt sidi erweisen, daß die Didaktik bescheidener 
ist, als sie sein dürfte, und daß cs auf der falschen Seite 
ist, daß sie haltmadit mit ihrem Prüfen und Rationalisieren, 
wo noch keine Grenze für wissenschaftliches Denken ist, 


21 



daß sie heteronoin ihren Grundriß zieht, Halb- und Viertel¬ 
wert hat und darum entsdiieden des Kriteriums wissensdiaft- 
lidier Haltung entbehrt: der Autonomie des Denkens, und 
so gebrodiene Linien zeigt. Es ist eine amüsante Detektiv- 
gesdiichte. Der Mörder ruft Polizei und Detektivs und läßt 
sidi suchen. Kein Schimmer Verdacht fällt auf ihn, denn er 
scheint das übermenschliche zu tun, die schreckliche Tat 
aufzuklären, und genießt ihre Früdite im Rummel der ab¬ 
gelenkten Spürer. Die Schule ruft die Didaktik zu Hilfe und 
diese im Respekt vor ihrer Herrin, - nun, das Bild wird 
allgemach unbrauchbar schief, - findet nicht, daß diese Herrin 
die Übeltäterin ist. Bildfrei: Im Laufe der letzten Jahr¬ 
hunderte entstand durch fortgesetzte Um- und Neubildungen 
ein System von gesellschaftlichen Einrichtungen, dessen Zweck 
der Unterricht der Kinder ist: das Schulwesen, eine breite 
und komplizierte Institution, ein System von Einrichtungen 
mit seinen bestimmten Prinzipien und Strukturen. Als 
Ganzes übt es bestimmte Wirkungen auf die Heranwachsende 
Jugend aus, auf die in ihm Heranwachsende, und ebenso auf 
die außer ihm lebende. Die Tätigkeit des einzelnen Lehrers 
sein Unterrichten ist bloß ein Faktor in dem Ganzen dieser 
Wirkungen. Wir wüßten nicht einmal sicher zu sagen, welche 
Bedeutung ihm zukommt. Und nur mit ihm befaßt sidi die 
Didaktik, ja nur mit seinem bewußten, auftragsgemäßen 
Tun. Alles andere bleibt jeder empirischen Prüfung, bleibt 
dem disziplinierten Durchdenken entzogen. Es wird hin¬ 
genommen wie ein gottgewolltes Schicksal alles Unterrichtens, 
daß es im Rahmen des heute, des jeweils gegeben Schulwesens 
verläuft; und nicht einmal die Frage wird gesehen, welche 
Rückwirkungen dieser Rahmen auf den Unterrichtsprozeß 
hat. Indessen die Didaktik versucht, den Unterricht des ein¬ 
zelnen Lehrers - gelegentlich auch die Disziplinführung in 
der Klasse - zweckrational zu denken, bleibt die Schule als 


22 






Ganzes, das Schulwesen als System ungestört, ungedadit; 
dürfen sich in ihm alle irrationalen Kräfte auswirken, die 
seine Voraussetzung, seine Triebkräfte, seine Determinanten 
sind. Diese Lücke müßte die Didaktik erst schließen, ehe 
sie den Ansprudi erheben kann, ernst genommen zu werden; 
wenn sie als theoretische Rationalisierungsinstanz ihren 
autonomen Umfang erreichen will. Sie muß sich durdi eine 
Disziplin ergänzen, die man Instituetik nennen könnte. Sit 
hätte zweckrational die Institution, die wir in ihrer Gänze 
Schulwesen nennen, umzudenken. Wieviel dann überhaupt 
von heutiger Didaktik übrigbleibt, wer will das wissen? 
Aber es genügt einen Augenblick lang die Teilung des 
Kindeslebens auf Schule und Familie, bzw. deren Ersatz in 
Gasse und Verein, die Gruppierung der Schüler nach Alters¬ 
klassen und Sdiulsprengel, die klassenbedingte Festsetzung 
des Lehrziels, die quantitative Aufteilung des Stoffes auf 
Jahres- und Stundenportionen, es genügt, nur dies sichtbarste, 
einen Augenblick nidit als unumstößlidie Gegebenheit ehr- 
furditsvoll zu betrachten, und es taucht ein Gesicht von 
Didaktik auf, das nichts mehr von der letztlidien Unglaub¬ 
würdigkeit und Verdächtigkeit der heutigen sehen läßt. 

Die Institution Schule ist nicht aus dem Zweck des Unter- 
ridits gedacht und nicht als Verwirklichung solcher Gedanken 
entstanden, sondern ist da, vor der Didaktik und gegen 
sic. Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen — ökonomischen, 
finanziellen — Zustand, aus den politischen 1 endenzen der 
Gesellschaft; aus den ideologisdien und kulturellen 1 orde- 
rungen und Wertungen, die dein ökonomischen Zustand und 
seinen politischen Tendenzen entsprangen; aus den (zweck-) 
irrationalen Anschauungen und Wertungen, die die psychische 
Beziehung alt - jung, die Bürgersdiaft in einer bestimmten 
Gesellschaft, in einer bestimmten ihrer Klassen, unbewußt 
und unkorrigiert erzeugt. In welcher Richtung immer diese 

23 





Kräfte wirken mögen, es ist von vornherein unw r ahrsdiein- 
lidi, daß sie die Erreichung des didaktischen Zweckes garan¬ 
tieren, es ist nicht einmal wahrscheinlich, daß sie ihm neutral 
gegenüberstehen. Sondern es ist sehr zu erwarten, daß sie 
ihn vielfach bredien und ablenken. Jedenfalls ist es wissen¬ 
schaftlicher Haltung nicht angemessen, soldie Möglichkeit, 
solche höchste Wahrscheinlichkeit ungeprüft zu lassen. Die 
Unerschrockenheit, Konsequenz, innere Geschlossenheit, die 
das Zeichen wissenschaftlicher Bemühung ist, fehlt darum 
der Didaktik. 

Schlimmer noch, sie gerät in eine lächerliche, und von der 
revolutionären Pädagogik her gewertet, verbrecherische 
Situation. Und zwar durdi eine der bitteren Paradoxien, deren 
die Geschichte der Pädagogik so reich ist. Das Schulwesen 
hat offenbar Wirk ungen, die über den eigentlichen Unterricht 
weit hinaus reichen. Die Schule - als Institution - erzieht. Sie 
ist zum wenigsten einer der Erzieher der Generation; 
einer jener Erzieher, die - zum Hohne allen Lehren der 
großen und kleinen Erzieher, zum Hohne allen Lehr- und 
Erziehungsprogrammen, allen Tagungen, Erlässen, Predigten 
- aus jeder Generation eben das machen, was sie heute ist, 
immer wieder ist, und gerade nach jenen Forderungen und 
Versprechungen ganz und gar nicht sein dürfte. So wenig Ein¬ 
sicht haben w ir in die eigentlichen Bildungs- und Erziehungs¬ 
prozesse der Gesellschaft, daß wir nicht zu sagen vermögen, 
welchen Anteil das Sdi ul wesen an dem sdiließlichen Resultat 
der vereinten Bemühungen geheimer Kräfte hat. Aber wer 
wollte zweifeln, daß es einen hat. Nur freilich, leider, 
einen anderen als man, als die Schule von sich selbst be¬ 
hauptet. Wenn aber die heutige Generation von je und 
heute das Erziellungsresultat der Schule ist, idi finde, daß 
cs nichtswürdig ist und auch die revolutionäre Pädagogik 
findet das, sieht sie doch als ihr Ziel die Veränderung dieser 


24 



Generation, ihre grünliche Vernichtung an. Weldier Pädagoge 
und Didaktiker hat den Mut, sidi zu diesem Resultat zu 
bekennen? Viclleidit gibt es nicht einmal einen, der mit 
solchem mutigen Bekenntnis, wenn er es ablcgte, seine 
wahre Meinung äußerte. Und das ist die Lächerlichkeit der 
didaktisdien Situation. Da denkt, schreibt, experimentiert, 
agitiert sie redlidi und ileißig - und sieht nidit, daß ihr 
Tun unnütz ist, weil es am falschen Ort geschieht. Zugleich 
aber - und das ist das Verwerfliche - erhält sie das Be¬ 
stehende, indem sie, selbst abgelenkt und abseitig tätig, Aller 
Aufmerksamkeit vom Feinde ablenkt. Aller Arbeitskraft 
nutzlos vergeudet. Nein, nidit erfolglos. Dient es dodi dem 
gesicherten Bestand des Bestehenden. 

Der Verfolg der Eindrücke aus den formalen Eigensdiaften 
der Didaktik hat uns hieher geführt. Bis an ihre wirklidie 
Grenze, weit Jenseits der unsichtbaren Zäune, in die sie ihr 
Arbeitsfeld allzu eng eingespannt duldet. Idi darf meine 
Vorwürfe kurz zusammenfassen, die sidi aus dem Inhalts¬ 
fehler der Didaktik ergeben. Hier geht sie zu weit. Hier ist 
sie mutig. Hier sieht sie mit paradoxer Optik berghohe 
Wände nidit, denn sie hat sie mit einer fladien Phantasie- 
landsdiaft bemalt, deren Horizonte sie für den wirklidun 
hält. Sie nimmt das Schulkind, die seelisdie Oberfläche, die 
das Sdiulkind sich aufdecken läßt, für des Kindes Seele. 
Weil die Sdiule des Kindes Leben und Lernen trennt, weil 
die Schule dies lebendigste Lebewesen zwingt — in ihren 
Räumen — ein intelligentes oder dummes, aber ein Lern- 
wesen zu sein, meint die Didaktik, was sie vom Lernen 
in der Schule feststellt, sei Linsidit in das Lernen, in das 
Leben des Kindes überhaupt. Und meint, in der Psyche des 
Kindes gäbe es einen säuberlich abgetrennten Bezirk für 
Lesen, Schreiben, Rechnen, Handfertigkeit und Religion, und 
untersucht die Vorgänge in diesem Bezirk, und hält die vor- 


25 








gefundenen Regeln für seelische Gesetzmäßigkeiten. Und 
sieht nidits vom Bios des Kindes, seinen Trieben, Wünschen, 
Idealen, nidits von seiner Lust und nichts von seinem Haß 
gegen den Lernbezirk. Ich halte nicht für unnütz, das Kind 
unter den krausen Bedingungen zu beobaditen, die die 
Schule bietet, ein lehrreiches vielleicht, ein lebensfremdes 
Experiment gewiß. Allein man muß wissen, was man dabei 
tut. Die Didaktik weiß aber auch hier nicht, was sie tut. 
Gott verzeihe ihr. Ich kann es nicht. 

So beurteile ich die Lage des musterhaften Teils der Päda¬ 
gogik. Es wird mir Mühe machen, über den Rest, den an 
Umfang und Schätzung bedeutenderen, auf wenigen Seiten so 
viele der Vorwürfe zu häufen, sie aus der unendlichen Fülle 
so gesdiidtt zu wählen, sie so spitz zu formulieren, daß der 
Leser, durch die Menge und Art der Argumente bestrickt, 
vergißt oder verzichtet, ihre sorgfältige Begründung zu for¬ 
dern. Denn wie könnte diese in einem dünnen Büchlein 
gegeben werden? Ja, wie ist diese umfassende und tief¬ 
greifende Fundierung überhaupt einem Einzelnen möglich? 
Zumal er ständig in Gefahr wäre, durch die ihn umgebende 
Mauer von - wie er meint - Vorurteilen beim sorgfältigen, 
gerechten Abwägen abgelenkt zu werden. In seiner Situation 
kann nur eine gewisse unbekümmerte Impetuosität das Ein¬ 
halten der Richtung sichern. Sie ermöglicht zudem die Zahl 
der Vorwürfe auf einige wenige - beispielhafte - einzu- 
schränken. 

Anders als ihre Teildisziplin Didaktik, ist die gesamte 
Pädagogik in keinem Sinn und in keinem Maß wissenschaft¬ 
lich. Dieser Satz gilt wörtlich. Kein Dutzend unbekannter Auf¬ 
sätze, kein halbes Dutzend kleiner schleditgekannter Büchlein 
widerspricht ihm. Und diese Kleinigkeiten sind zager Ansatz, 
Versuch zum Ansatz. Man wird erlauben, wenn ich diese 
paar Dutzend Seiten aus der pädagogischen Literatur — vor- 


26 




läufig und der Einfachheit wegen - streidie. Ausnehmen 
will ich nodi die Gesdiidite der Pädagogik. Sie soll uns in 
anderem Zusammenhang beschädigen. Was übrig bleibt — 
o heilige Commeniusbibliothek im ordentlidien Leipzig, wie 
hütest du wohlgeordnet diese Hunderttausende von Büchern! 

— es sei sein Wert weldi höchster Kategorie immer, vom Geist 

der Wisscnsdiaft ist es verlassen. 

Beginnen wir mit den Großen, den Pädagogikcrn - ich 
sehe ein, das Wort ist nicht schön, es ist aber gut, denn es 
warnt uns, die größte Größe zu erwarten, das angehängte 
-iker, unbeabsichtigt klappert es doch ein wenig Verkleinerung 
nadi. Und beginnen wir mit einer ehrlidien Reverenz. Ge¬ 
stehen wir zärtliche Liebe zu Pestalozzi und Jean Paul, nidit 
nur zu ihren hübschen Rokoko- und Empirebänddien, zu 
Gesicht und Handschrift, nein, zur Gestalt, zum Leben, zum 
lebendigen, wirkenden Menschen; gestehen wir tiefe Ehr¬ 
furcht vor dieser steifen, ungebrochenen Fichte—Rede, 
-Denkphantasie, —Lebensgewalt; gestehen wir noch er¬ 
schrockene, befremdete Aditung vor der unerschöpflich geist¬ 
reichen Krankheit des fürchterlichen Rousseau, Und ist nicht 
mehr wie Rührung, ist nicht ein Stück Neid und Sehnsucht 
beim Sehnepfenthalisdien Idyll Salzmann, mehr sogar nodi 
als bloßes Amüsement beim krausen Reklamehelden Basedow 7 , 
spürt man nicht das kluge und gütige Auge Komenskys, das 
den ganzen Orbis pictus sah, weldi würdiger Bart umrahmt 
es? Und steht nicht jeder an der Spitze einer Schar Ähnlidier, 
durch Zufall der Geschichte nur dem Gelehrten nodi mehr 
als nadi Namen bekannt, mit denen uns Gefühle der Aditung, 
Rührung, Verehrung verknüpfen? Ihnen allen ehrlichste 
Reverenz, Aber wir sind nidit zusammengekommen, der 
Leser und der Autor, um zu verehren, nidit einmal um 
höflich zu sein, am wenigsten um zu schonen. Ihnen schadet 
es nicht mehr, vielleicht wird es zu guter Letzt zu ihrer 


27 






Lehren Nutzen ausgehen. Und schließlich: Donnerwetter, wie 
hätten sie midi mißhandelt, so zwisdlen anno 16.50 und 1850, 
hutt’ idi midi damals nur gerührt. Nidit einmal Reverenz 
halt’ idi zum guten Beginnen bekommen. - 

Sdion die völlig fehlende empirisdie Basis bei einer Reihe 
von sehr bedeutenden und einflußreidien Pädagogiken! 
stützt die Allgemeinheit des Vorwurfes der Unwissensthaft- 
idikeit. Da ist Rousseau, der sein Lebtag nicht anders mit 
indem zu tun hatte, denn als unwilliger Vater oder flüch¬ 
tiger Zuschauer. Da ist Fichte, Herbart, Basedow, Jean Paul 
' eren Lehren auf dem kümmerlichen Ansatz einer Empirie' 
ruhen, den Hauslehrersdiaff, Hofmeisterwürde bei zwei drei 
oder selbst zehn Kindern in vielfach abgclenkten Studien- 
lahren gewährt Wunderliche Astronomen, die nachts fest 
sddafen und sich morgens von Sternen erzählen lassen, um 
nach lisdie über sie zu denken und zu schreiben. Päda- 
gogi -er, die keine Kinder kennen, oder nur so vom Hören¬ 
sagen, flüchtig aus der Ferne und Vergangenheit, bestenfalls 
dieses und jenes aus persönlidiem und nahem Umgang. 

Ver immer über Kindheit oder Jugend denkt, steht unter 
einer psychischen Konstellation, die das reine üenkergebnis 
aßek, IV gefährden wilb Ein Kind kennt er mit unvermeid- 
hdier Aufdringlichkeit und Lebendigkeit: sich selbst als Kind 
Und diese Kindergestalt ist ein Apriori, das er jeder Er- 
ahrung von anderen Kindern als gebieterisches Prokrustes¬ 
bett voranhält, sie völlig zerstückelnd und verstümmelnd. 
Und - Gipfelpunkt der Gefahr - völlig harmlos und unbe¬ 
wußt, in gutem Glauben, bei gänzlidi schweigendem, intellek¬ 
tuellem Gewissen. Wäre die Erinnerung an die eigene 
Kindheit treue Reproduktion eines Objektes, wie sidi einer 
etwa zu Hause sizilische Landschaft, vor Jahren gesehen 
sei es auch mit allen Affekten genossen, treu in Farbe und 
Gestalt vergegenwärtigt, so wäre sie zwar unzulänglidie 


28 



Basis einer Verallgemeinerung, aber doch deren Ansatz. 
Unsere erinnerte Kindheit ist aber weit entfernt davon, 
treue Erinnerung zu sein, sie ist Tendenz, entstanden in den 
tiefsten Seelen wirbeln des Lebens, festgehalten, ausgestaltet 
. als Waffe gegen mäditige f einde innerhalb der eigenen 
Seele in lebenslänglichem Kampfe. In einem Kampf, dessen 
Ziel gewiß alle Mittel heiligt. Was bedeutet hier Wahrheit, 
Erkenntnis. Sie haben nichts mit dem Ziel gemein, sie 
kommen als Mittel gar nicht in Frage. 

Unsere bewußte Kindheitserinnerung hat zu Elementen 
isolierte Reste realer Erlebnisse, deren Zusammenhänge durch 
die Verdrängung zerrissen sind. Sic entstehen in den Zeiten 
des definitiven Idiaufbaues, in der Pubertät, etwa nadi den 
Methoden gewalttätiger Herrschaft: was mit dem Bauplan 
nicht übereinstimmt, was zum gewollten Bild nidit paßt, 
wird vernichtet. Und wieviel kann dem neuen Ichideal der 
Pubertät, das sich gegen clic ganze Kindheit wendet, vom 
kindlidien Tun, Denken, Fühlen recht sein? Es ist ja der 
Zweck des neuen Person! idikeitsaufbaues, die frühere Lebens¬ 
stufe zu überwinden, sie also spurlos — möglichst — zu ver- 
niditen. Diese isolierten Reste werden nun verbunden, ergänzt 
durch Überarbeitungen der realen Vergangenheit, von soldier 
Intensität, daß tatsädilich etwas entsteht, das jener zerstörten 
Wahrheit wie Diditung gegenübersteht. Nicht die Fakta des 
äußeren Lebens sind hier gemeint, obzwar auch sie nicht 
allgemein ausgenommen werden müssen, sondern die innere 
Struktur des seelischen Lebens. Und das Ganze ruht auf 
einem Grund, von dem nicht eine Spur mehr sichtbar blieb. 
Die ersten Jahre sind völlig vergessen. Stellt man ein Stück 
von ihnen im Bewußtsein wieder her, so zeigt sich, daß 
dieses Urvergessene den geheimen Bauplan der erhaltenen 
Reste bestimmt. Sie stehen an wichtigen Stellen, sie decken 
unerkennbar und harmlos dem nicht analysierenden 


29 


Bewußtsein Stellen stärksten psychischen Kampfes, Tatsachen, 
ie zum erinnerten Bild in bedrohlichem Widerspruch 
stehen. Daß solch lückenhaftes, entstelltes Bild von 
der eigenen Kindheit keine zulängliche Basis für wissen¬ 
schaftliche Einsicht ist, leuchtet ein. Und doch ist die 
Gefahr, die dies natürliche Seelenprodukt, der naive 

Begriff von Kindheit, der Pädagogik bringt, nodi nicht er¬ 
schöpft. 


Wir wollen nicht übersehen, daß es Triebe, heftige infantile 
" unsdle sind » die der Verdrängung verfielen und durch die 
naive Anschauung über die Kindheit verdeckt werden Und 
Triebe, infantile Wünsche sind unsterblich. Tausendmal ver¬ 
drängt, sie bleiben lebendig, und unkenntlid. entstellt in 
f °rm und Ziel, drängen sie unermüdlich nadt Befriedigung 
Andern Pädagogiken Auch während seines Denkens und 
reibens. Da ,st einer, der - allein vom Wissen um seine 

Kindh - e ge T‘ " Seine Icidens * aft lidie, triebwilde 
Kincmeit verdrängend, zur Verherrlichung des idealen Kindes 

der Kindheit als idealen Zustand gelangt: „Alles ist gut, wie’ 

es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt ” so 

jertet er das Resultat der Verdrängung und zuglei* ist 

den verdrängten Triebansprüchen Befriedigung geworden 

die infantile Aggression gegen die erwachsenen Unterdrücker 

tobt nun entstellt: „Alles artet unter den Händen des Men 
sehen aus.” 

Da ist ein anderer, dem es sauer geworden sein mag, die 
idudeal-konträren Impulse zu bewältigen - dur* Verdrän¬ 
gung natürlich - au* seine Kindheitserinnerung enthält 
ni*t mehr als harmlos boshafte Streidie, aber das Fazit aus 
c cn Pyrrhussiegen in der eigenen Seele ist in der Einsidit 
gezogen: „Hast du Kinder, so zeu* sie und beuge ihren 
Hals von Jugend auf. Wcl*e Eltern umb die Kinderzu*t 
ni t bekümmert seyn, sondern ihre Ehepflantzen als wilde 


30 



Ranken daher wachsen lassen, sind nidit werth, daß man sie 
Thiere, geschweige denn Menschen nenne.” Und die gleiche 
infantile Aggression ist nun auf das Kind, auf die anderen, 
seine Kinder gerichtet und tobt gegen sie, und wäre es auch 
bloß auf dem Papier, wie bei jenem gegen die Erwadisencn, 
Der naive Kindheitsbegriff ist von geheimer Tendenz durdi- 
tränkt, Tendenz cles jungen Ichideals gegen seine kindliche 
V ergangenheit, Tendenz des erwachsenen Idi gegen die nidit 
erledigten, sondern bloß verdrängten infantilen Triebe, 
Tendenz des Denkenden gegen seine Objekte, die:’ Kinder 
und ihre Erzieher. Er durdidringt mit Wertung die Sphäre 
des Tatsächlichen, auf ihm basiert nidit allein die Vor¬ 
stellung des Pädagogiken vom Kinde, sondern zuglcidi auch 
die Konsequenz dieser Vorstellung, der Grundriß des Er¬ 
ziehungssystems. Unbewußte, erkenntnisfremde, unkontrol¬ 
lierbare Einmischung der Affekte findet im Zentrum des 
pädagogischen Systems statt. Kein sichereres Kriterium gegen 
die Wissenschaftlichkeit eines Gebildes wäre aufzeigbar. 

Man kann dies alles als Tatbestand zugeben, gerade uin 
zum entgegengesetzten Werturteil zu gelangen. All das be¬ 
weise ja, daß die Lehren der großen Pädagogiker nidit 
bloßes Vemunftergebnis seien, daß sie - viel mehr, viel 
tieferes als das - Intuition des Genies sind. Und das glaube 
audi. Ja, das eben behaupte ich. Sic sind — nicht selten; 

^ tiefe Intuitionen außerordentlidier, bemerkenswerter 
enschen. Ihre Schriften und Ideen sind von hohem Schön- 
leitsge lalt, von hohem Sittlidikeitswert; mandie gefallen im 
besten Sinn des Wortes, mandie ersdiüttem, bekehren. Als 
Leistungen der Intuition entspringen sie dem tiefen Unbe¬ 
wußten und rühren an das Unbewußte des Lesers. Ganz 
wie die Diditung, die Kunst, die Philosophie. Sie sind 
Dichtung und Philosophie. Aber wir dürfen dies nidit bloß 
als Wertung auffassen, wir müssen cs als Tatbestands- 


3* 






bezeichnung nehmen. Manche Lehre der Pädagogiker ist 
gute, manche ist schlechte Diditung oder Philosophie. Jenes, 
was als schön und tief wirkt, dieses, was als häßlich und 
flach nicht wirkt. Wer will bei Dichtungen nach empirischer 
Basis und nach ihrer Richtigkeit fragen? Hier gelten andere 
Kriterien als bei der Wissenschaft. Damit hätte idi meinen 
Einwendenden, dem ich völlig zustimme, dort wo ich ihn 
brauche. Die Leistungen der großen Pädagogiker sind Kunst- 
Icistungen, Intuitionsschöpfungen. Sie sind nidit Wissenschaft. 
Und eben das war zu beweisen. Werten wir sie als Dich¬ 
tung, so mag ihr Rang ein sehr bedeutender sein, wird aber 
dadurch allein in der Wertung als Wissenschaft ein niedriger. 
Und die Frage erhebt sich, ob die Lehren der Pädagogiker 
als Dichtung gewertet werden wollen, ob sie das dürfen. 
Daß wir zu dieser Frage gelangen, zeigt das Unangenehme 
der Situation. Es ist, als hätte der Bildner des Zeus von 
Otricoli versprochen, einen leibhaftigen Gott zu schaffen, 
der wahrhaftig mit den Brauen winken und mit der Marmor¬ 
hand Donnerkeile werfen w ird. Und wir stehen vor diesem 
Wunder der Kunst, die Schönheit verehrend, die Macht 
erlebend, die Kunst bewundernd und vergessen, was uns 
versprochen wurde, vergessen es dem Künstler, daß er sein 
Ziel nicht erreichte, weil wir ein höheres vor uns erfüllt 
sehen. Aber er bleibt der steinerne Gott gänzlich unbewegt 
und der Bildner hatte gelogen. 

Vergessen wir nicht: jede pädagogische Lehre — jede der 
Dichtungen über Erziehung, die uns hier vorschweben - 
macht eine Aussage über die Realität: Wenn du meine 
Methoden befolgst, dann erreichst du, daß aus deinen Zög¬ 
lingen wahr und wahrhaftig jene Menschen werden, von 
denen als den Idealen oder Zielen ich eingangs sprach. Und 
diese Aussage, diese Behauptung, dieses Versprechen ist 
das wichtigste Stück der ganzen Lehre, ohne es bestünde sie 


32 



überhaupt nidit. Und wegen dieser Versprechung ist das 
pädagogische System objektiv keine Dichtung, es mag sub¬ 
jektiv als soldie entstanden sein, es mag als solche Werte 
besitzen. Über seinen Wert entscheidet, ob das Versprechen 
erfüllt wird. Nur dann ist die Lehre richtig. Da hilft nichts. 
So flach ist die Angelegenheit. 

Der Leser hat einen Lin wand im Hintergrund, der zwar 
nur ein Detail trifft, den ich ihm aber entreißen muß, sonst 
vcrsdiließt er sich meinen Argumenten, in der Hoffnung, 
midi gelegentlidi völlig durch meine eigene Unachtsamkeit 
zu vernichten. Ich habe bedadit, daß unter den großen 
Pädagogikern Schulgründer sind. Idi habe Dessau so wenig 
wie Stanz, Iverclün, Keilhau und Schnepfenthal vergessen. 
Mein Gegner bat recht: hier waren hunderte versdiieden- 
artige Kinder unter den achtsamen Augen des Pädagogikers. 
Hier wurden die Lehren an der Realität geprüft. Hier war 
eine genügende empirische Basis. Und tatsadilich ist der 
naive Begriff von Kindheit bei diesen Pädagogikern durdi 
eine mannigfaltige Erfahrung korrigiert. Wie konkret und 
ebendig ist jedes Wort über Kinder bei Pestalutz, mit den 
Schemen Fichtcs, mit den affektiven Verzerrungen Rousseans 
verglichen. Gewiß, auch hier sdilägt die apriorische Tendenz 
durch. Das geschähe audi, wenn diese Männer zchntausend- 
fach vermehrte Erfahrung gehabt härten. Denn zuletzt kommt 
es nidit allein auf die - unerläßliche - empirische Basis an, 
sondern auf die wissensdialfliche Gesinnung, die das Maß 
der Korrekturen, den Umfang der Einschränkung des Autis¬ 
mus entscheidet. Diese Emsteilung fragt nadi dem Sein. Wie 
ist das Kind? Sic fragt nicht nadi dem Beobaditer, nidit, 
wie wirkt das Kind auf mich? Die großen Pädagogiker dieses 
Typs, seien sic immerhin große Pädagogen genannt, da sie 
ja wirklidic und nidit bloß gedadite Kinder führten, emp¬ 
finden gegenüber dein Kind: Rührung, Liebe, Mitleid, Hoff- 


Bernfeld, Sisyphos 5 


33 







nung, Abscheu, Entsetzen. Und dies ihr Gefühl, ihre per¬ 
sönliche Reaktion auf das Sein, ist ihnen das Problem, ist 
ihnen Angelpunkt ihrer Lehre, ist ihr Beobachtungsinstrument. 
Sie sehen nicht das Kind, wie es ist, sondern im Grund nur das 
Kind und sich selbst, eins aufs andere bezogen. Und wenn 
sie selbst von sich abstrahieren könnten, es interessierte sie 
gar nicht, wie das Kind an und für sich ist, sondern 
einzig, wie man aus ihm etwas anderes bilden könnte. Das 
Kind ist Mittel zum theologischen, ethischen, sozialutopischen 
Zweck. 

Jenen fehlt die Möglichkeit zu jeder wissenschaftlichen 
Betrachtung; diesen ist sie empirisch gegeben, sie vermögen 
sie nicht zu nutzen, denn es fehlt ihnen die Einstellung der 
\V issenschaft. Sie fördern daher den Rationalisierungsprozcß 
der Erziehung nicht. Die von ihnen geschaffene Pädagogik 
ist nicht die Rationalisierungsinstanz der gesellschaftlichen 
Prozesse, die wir Erziehung nennen. Ihre Lehren stehen zwar 
voll im Gegensatz zu den Vorgefundenen, zu den zu ihrer Zeit 
üblichen und gültigen Erziehungsbräudien und -ansdiauungen. 
Sie erheben sich auch, gewertet nach den Kriterien der 
Schönheit, der sittlichen Ideale, der Tiefe der Auffassung, 
der menschlichen Reinheit, weit über den zeitgenössischen 
Durdisdanittszustand; sie zeichnen ein sittliches, künstlerisches 
Niveau der Pädagogik an, das gelegentlich sehr hoch sein 
mag — aber sie führen keine Übereinstimm ung zwischen 
ihren Zielen und den Mitteln, die zu ihnen zu führen ver¬ 
sprechen, herbei. Es klafft eine unüberbrückbare Kluft 
zwischen dem Ziel und dem Mittel. Denn die Ziele sind 
allemal hohe, letzte; und den Erweis der Tauglichkeit der 
Mittel vermag nur eine wissenschaftliche Prüfung zu erbringen, 
deren letztes Kriterium der reale Erfolg ist. 

Der Aufbau des ganzen Systems verhindert überhaupt die 
Anlegung dieses Maßstabes. Die Lehren der großen Päda- 


34 


gogiker (und Pädagogen) sind notwendigerweise, nach ihrer 
inneren Struktur, unerweislidi. Sie haben, so versdiieden sie 
na di Inhalt, nadi Darstellung, nach dem Maß systematischen 
Aufwands immer sein mögen, obzwar es gut ist, die ober¬ 
flächlich weitgehenden Differenzen als in tieferen Schichten 
auf typisch einfache reduzierbar anzunehmen, sie haben zwei 
Konstanten, die jeder Korrektur durch irgendeine Empirie 
entzogen und Eckpfeiler des ganzen Lehrgebäudes sind: 
Das Ziel der Erziehung und sein Objekt. Die Ansdiauungen 
über dieses sind von unbewußten Trieben im kontrollierbar 
gewiß sehr weitgehend beeinttußt, jenes erscheint als gegeben. 

Das letzte sittliche, soziale, religiöse, intellektuelle Ideal ist 
ihnen als Ziel der Erziehung gerade genug. Es ist a priori 
gegeben. Steht über jeder Diskussion. Und hält es ein syste¬ 
matischer Kopf für nötig, dies Ziel abzuleiten, so sind seine 
Deduktionen nur Spicgelfediterei. Er weiß von vornherein, 
was das Ergebnis der Deduktion sein wird, er bringt es 
mit; er hat es vor seinem Denken und wird dieses so 
f uhren, ihm gewißlidi soldie Prämissen schaffen, daß ihm keine 
Überraschung drohe. Und woher hat er dieses unbeirrbar 
sichere Ziel? lrn einfadisten Fall von seinen Lehrern oder 
Zeitgenossen; im komplizierteren aus sidi selbst. Er hatte 
es in sidi erlebt als Sicherheit, als verehrungswürdige 
Gewißheit, wie den Sternenhimmel über sich. Das mit den 
Sternen überlasse idi gern dem Erkenntnistheoretiker zum 
Entsdieid, aber von dem Sittengesetz in mir weiß ich, daß 
es unentwirrbar komplex versdilungen ist mit dem Unbe¬ 
wußten, mit allem Bösen, mit allem Fremdartigen, mit allem 
Unkontrollicrbarcn in mir. Ja, es weist gebieterisch eine 
Richtung und unübertäubbar erklärt es diese als die richtige. 
Aber indem ich ihm folge, bin idi Sklave einer Macht, deren 
Wurzeln, deren Ziel, deren Kompetenz idi nicht kenne. Idi 
bin es gern. Das ist meine Schuld. Nidit mein Verdienst. 

3 * 


35 



arum bin ich stolz und heiße midi frei und Bahnbrecher, 
wo idi zu blind bin, sie zu durchschauen, zu feig, sie zu 
zerstören — vielleicht. Aber wie immer: Ich erlebe dies Un¬ 
bekannte - unbekannt: woher, unbekannt: wohin - als 
Norm, die mich zwingt; idi bedauere die Grenze der Er¬ 
kenntnis, aber ich glaube meinem Erleben. Mit Erstaunen, 
Freude, vielleidit auch mit Bangen kann idi linden, dies 
mein Menschideal ist dasselbe, im wesentlichen, so scheint 
es, wie des Pestalozzi, wie des Herbart seines, wie aller der 
großen Pädagogiken ja wie alle Menschen seit je, scheint 
mir, die Normen formulierten. Wir finden uns in schönster 
Harmonie über das Ziel der - Menschheit. Idi aber stelle 
die Frage: Wer beweist, daß dies selbe audi das Ziel der 
Lrziehung sei ? Jene behaupten es in edlem Irrtum. Sie 
denken nicht daran, hier auch nur etwas von Frage zu 
sehen. Denn solche wichtigste Angelegenheit wie die Er¬ 
ziehung, was anderes soll ihr Ziel sein, als eben das letzte, 
umfassendste? O St.-Veitstanz, den man Ideengesdiichte der 
Pädagogik nennt. Wäre das Mensdiheitsziel Erziehungsziel, 
dann wäre Erziehung eine hochwichtige Angelegenheit. Daß 
aber die Pädagogik hochmütig selbstverständlich der Er¬ 
ziehung höchste Aufgaben setzt, enthebt uns nicht der Prü¬ 
fung, ob sie recht hat, so zu tun. 

Man setze etwa folgenden Fall: Es sei erwiesen, ganz 
unbez weif eibar, daß unter einer Bedingung sofort dies seit 
dem König Ukuragina gesehene Mensdiideal ganz ohne Aus¬ 
nahme verwirklicht würde: wenn die Erdachse, die bekannt¬ 
lich schief steht, gerade stünde. Und es sei ferner ebenso 
erwiesen, dies sei nur unter dieser Bedingung erreichbar. Und 
es sei schließlich dieser Erweis zu einer Zeit erbracht, in der 
menschliches Können nodi völlig ratlos vor der Aufgabe 
steht, solche gigantische Reparatur in Angriff zu nehmen. 

An dem Mensdiideal würde soldie Einsicht in die Dyna- 


36 





mik der sittlidien Entwicklung und die tedinisdie Sdiwierig- 
kcit der Sadie nidits ändern, es bliebe die letzte Sehnsucht 
der Philosophen, der Dichter, der Schwärmer und der Hoff¬ 
nungsvollen, und wir selbst, wer w T eiß, wären unter ihnen 
und würden Astronomie statt Psydiologie studieren, Hebel- 
versudie statt Sdiulgemeinden machen, und die Ingenieure 
würden stolz sein auf eine allgemeine Masdiinenwissen schaff, 
aus dem Zweck der Menschheit deduziert. Und die Pädago- 
giker, die unentwegt den Felsblock der pädagogisdien Mittel 
auf den Gipfel des Idealbergs wälzten, ersdiienen Iädierlidi 
und unnütz: sisyphisdie Uberhebung, von boshaften Göttern 
mit Mühsal und Erfolglosigkeit bestraft. 

Nicht das ist also der Vorwurf, daß die Pädagogiker große 
und edle Ziele haben, sondern daß sie die Erziehung - 
ungeprüft — zur Vollstreckerin dieser Ziele madien. Daß sie 
nicht fragen: Ist dies ewige Menschideal erreichbar? Uns er¬ 
reichbar? Durch Erziehung erreichbar? Erstnadi Bejahung der 
drei Fragen wäre die dritte zu stellen : Durdi das von mir 
erfundene Mittel? Wir werden versuchen, diese Fragen in 
geeigneterem Zusammenhang zu prüfen, denn man muß 
weit ausholen, soll das Ergebnis mehr sein, als die brage- 
stellung allein, mit der hier ein Genügen geiunden sei, um 
rasch das Mißtrauen auszuspredien, das nunmehr unser 
a priori gegenüber den Lehren vom Mittel der Erziehung, 
wie sie die Pädagogiker tradieren, sein muß. Einer satirisdien 
Geschichte der Pädagogik bleibe Vorbehalten, die Lehren 
der Pädagogiker - der größten und ehrwürdigsten audi - im 
Einzelnen darzustellen, in ihrer schreienden Dissonanz zum 
edlen, ew igen, ersdiüttemd formulierten Ziel. Mit der Frei¬ 
heit, die sidi der Sdiriftsteller erlauben darf, der schreibend 
bereits verzichtet hat, völlig zu überzeugen, weise idi auf 
einige Data hin, zufrieden, wenn den Leser Ungläubigkeit 
und Widerspruch zur Prüfung anregt. 


37 





Alle erzieh erisdien Maßnahmen, die als geeignet gelehrt 
werden, das Kind mit seiner naiv und intuitiv erfaßten 
Struktur zu jenem hohen Ziel zu verändern, sind verdächtig 
einfadi und banal. Ihre Banalität erweist sidi sdion darin, 
daß sic alle samt und sonders und jede einzelne für sich 
nidit neu sind. Wahrscheinlich ist es gar nicht möglidi, ein 
wirklich neues Mittel der Erziehung zu erdenken. Gewiß 
ist es den großen Pädagogen nicht gelungen. Ob sie nun 
Liebes kraft oder harte Zucht Vorschlägen, Belehrung durch 
Worte, durch Beispiel oder Rute empfehlen, ob sie für aktives 
Verhalten des Erziehers sind oder für geduldiges Zuwarten, 
ablenkendes Ausleben der kindlichen Impulse oder deren 
Unterdrückung verlangen - seit es Eltern, seit es Erzieher 
gibt, ist diese uralte Skala vom strengen Blick bis zur 
Gefängnisstrafe, von dem milden Wort bis zur bändereichen 
Predigt allüberall geübt worden. Kinder wurden zu Millionen 
in kunterbunter Mischung all solcher Mittel, Millionen wurden 
von jedem einzeln erzogen, es kann keine Kombination mehr 
geben, die nidit bereits gewirkt hätte - und das Ergebnis 
ist die Menschheit von heute, von je. Immer standen die 
empirisdien Mensdien vom ewigen Menschideal so weit ab, 
daß etwaige Differenzen nach oben oder unten vernach¬ 
lässigt werden können, daß der Satz gilt, sie sind seit Jahr¬ 
tausenden gleich weit vor ihm stehen geblieben. Es bedarf 
doch keines Hinweises auf die Unterscheidung zwischen 
zivilisatorischer Höhe und sittlicher Vollkommenheit? Idi 
nehme an, der Leser ist durch die verschiedenen Äußerungs¬ 
formen der ewig gleich idealfernen Seelen Struktur nidit 
blendbar, und erkennt sie nicht als verschieden hohe, sondern 
bloß als verschiedenartige Niveaus gesellsdiaftlidier Gebilde. 
Den banalen, seit je gebräuchlidien Mitteln der Erziehung 
als solchen w r ohnt die umbiidende ideaiverwärklichende Kraft 
nicht inne, die die Systeme der großen Pädagogiker ihnen 

38 




zusdireiben. Es gibt keine Zauberei. Audi nidit durdi milden 
Erzieherblick, nidit durdi heilsame Prügel. 

Aber vielleidit sind diese Invektiven nidit berechtigt. Viel¬ 
leicht wäre dodi dies oder jenes Mittel fähig, das gesetzte 
Ideal zu erreidien. Es liegt an der Struktur der Pädagogik, 
an der Situation des Pädagogikers, daß diese frage so 
sdiwierig zu entscheiden ist. Wo ist der Weg, der zur Geridits- 
stätte führte, wo sind die Richter, die an ihr wirken könnten, 
weldics könnten die Regeln, die Indizien sein, wenn es zu 
entscheiden gälte, ob dieser Junge ein sittlidi-religiöses 
Subjekt, dieses Mädchen ein Charakter ist, ob A die dritte 
Stufe der rechten Ehrfurcht, ob B das gleidischwebende, viel¬ 
seitige Interesse erlangt hat ? Sprechen wir gar nidit von der 
letzten Vollendung, sie mag immerhin Ideal, also unerreich¬ 
bar, nie erweisbar sein; denken wir an jene niedrige Stute 
der unendlichen Treppe zum Ideal, die als erreichbares Ziel 
gelten soll. Idi frage nadi verbindlichen Kriterien. Idi bin 
ein Flachkopf, der nichts von Metaphysik versteht. Idi bin 
ein polemischer Flachkopf, der von Metaphysik in der 
Erziehung nichts wissen will. Man kann hier die Diskussion 
mit mir abbrechen und midi belehren, daß cs in der Sphäre 
der sittlidien Werte rationale Maßstäbe nidit gibt. Dann 
rufe idi dem Weggehenden nadi: Warum beschimpfen Sie 
mich, gerade dasselbe sage ich ja. Bleiben Sie, wir sind 
einig. Will man dann den Abbruch dieser unterhaltsamen 
Diskussion vermeiden — und durdi unsere Einstimmigkeit w äre 
sie hier so gut abgebrochen wie durch die denkbar sdiärfste 
Disharmonie - so redet man mir etwa folgendermaßen zu: 
„Aber es gibt dodi wahrhaftig Unterschiede zwischen den 
Kindern, und wenn wir sie auch gewiß nidit immer klar zu 
formulieren vermögen, so haben wir doch nicht minder 
deutlich den Eindruck von einer Gesamtperson und ihrer 
Relation zu den Werten und Idealen, zu den Zielen wenigstens 


39 





1 


und beurteilen mittels derselben Intuition, die jene Ziele auf¬ 
gestellt hat, ihr Ver wir k 1 i chun gs ni vea u im konkreten Fall. 
Die Maß stäbe seien immerhin nicht auf zeigbar, wir unter¬ 
scheiden doch das verbrecherische Kind und einen verträg¬ 
lichen, einfügsamen, bildbaren Charakter. Man muß nicht 
übertreiben und nicht gewalttätig einseitig sein.” Mein freund¬ 
licher Opponent hat Recht mit jedem Wort. Er erlaube mir, 
daß ich seinen Gedankengang aufnehme, indem ich dieses 
uns intuitiv gegebene pädagogische Urteil über den Charakter 
eines Kindes, über seine Zielnähe oder Zielferne als Tat¬ 
sache akzeptiere, aber als eine erklärungsbedürftige. Wir 
wundem uns zu wenig über die Sidierheit, mit welcher das 
pädagogische Urteil in uns erscheint. Die subjektive Über¬ 
zeugungskraft, mit der es sich uns präsentiert, schreiben wir 
seiner objektiven Gültigkeit zu. Hier aber liegt ein Problem, 
eine wissenschaftliche Aufgabe, deren Resultat wir nicht 
vorweg eskamotieren können. Die Systeme der Pädagogiker 
lassen nichts von dieser Problematik ahnen. Naiv und 
ahnungslos entscheiden sie über ihren pädagogischen Erfolg, 
den Wert ihres Mittels, auf Grund ihrer intuitiven Beur¬ 
teilung der kindlichen Struktur. Dieselben unbewußten Kräfte, 
- oder andere, aber ebenso unkontrollierbar und unbemerkt 
dem Ubw entstammende, - die das naive Bild vom Kind 
gestaltet haben, determinieren auch das naive Urteil über 
den Erziehungserfolg. Farbenblinde Maler haben Rot und 
Braun Ununterschieden zu Landschaften verwendet, eine farben¬ 
blinde Jury prüft die Bilder auf ihre naturalistischen Quali¬ 
täten. Nur daß die pädagogischen Systemmaler Bildner und 
Jury r in derselben Person vereinen. 

Wie weit das aufgestellte Erziehungsziel (ideal) erfüllt 
wurde, ist demnach nicht kontrollierbar. Oder präziser: es 
wird von den großen Pädagogikern nicht kontrolliert; sie 
sind weder im Besitz der Kriterien nodi auch von der Ein- 


40 



Stellung erfaßt, die realen Wirkungen ihrer Mittel, deren 
Zweckrationalität zu prüfen. Ihr Urteil über ihre Resultate 
ist intuitiv; es ist in seinen tieferen Schichten vom Unbe¬ 
wußten determiniert, in seinen oberen beeinflußt von Liebe, 
Neigung, Haß und Abneigung gegen den Zögling, von den 
Wünsdien, den Hoffnungen auf die Möglichkeit einer besseren 
Welt, dem Stolz, einen Beitrag zu ihrer Herbeiführung 
geleistet zu haben. 

Aber es mag dieser Vorwurf der Einschränkungen bedürfen, 
sei er selbst von Grund auf und in seinem ganzen Umfang 
falsdi, so gilt er um so gewisser nach einer kleinen Wendung. 
Selbst die empirischen Grundlagen für das Erfolgsurteil sind auf 
seiten der Mittel nicht gegeben. Denn ließe der Erfolg 
sich sogar schlüssig erweisen, es verbliebe der Nachweis, ob 
er durch die vermeintlichen Mittel erreicht wurde. Die Mög¬ 
lichkeit ist offen, daß Faktoren zusammengewirkt haben, die 
in der Lehre des Pädagogikers gar nidit, ungenügend oder 
falsch cingesdiätzt worden w'aren. Die Erziehlehren knüpfen 
den Erfolg an diese oder jene Einzelmaßnahme, V erhaltungs¬ 
weiße. Gelegentlidi an ein System solcher, aber zahllose 
Umstände, die in der realen Erzielnmgssituation außer den 
explizite bedachten, mit wirken, werden gar nicht erwogen. 
Gesetzt, des Pestalozzi Zöglinge erreidicn des Pestalozzi 
Erziehungsziel. Wer entscheidet, wer prüft, wer fragt nur 
erustlidi, ob dies des Pestalozzi Methode oder dieses liebe¬ 
starken Mannes Charisma zu danken ist? Es gibt nicht wenig 
Gründe, die eben dies vermuten lassen. Hier sind die Päda- 
gogiker bescheiden, bis zur Demut. Die Einmaligkeit des 
Erfolges, der mit den Wirkungen ihrer Person gegeben ist, 
die verhältnismäßige Gleichgültigkeit der Methode gegen¬ 
über den gestaltenden Kräften, die von ihrer Person, unab¬ 
hängig von ihren vermeintlichen Mitteln ausgehen, sehen sie 
nidu. Sidi stellen sie hinter die Methode. Unangebrachte 


41 



Selbstlosigkeit, die nicht geeignet ist, die Fehler zu ver¬ 
mindern, die der Durchbruch des Unbewußten mit seinen 
höchstpersönlichen Tendenzen und Determinanten bei der 
Zielsetzung, bei der Methodenerfindung, bei der Erfolgs¬ 
beurteilung verursachten; Sdieinselbstlosigkeit, die dieser Fehler 
Folgen ins Gigantische vermehrt, indem sie alle Aufmerk¬ 
samkeit, alles Interesse, alle Affekte der Jünger und der 
Feinde auf die - vielleicht wertlose, gewiß banale und über¬ 
schätzte - Methode lenkt. Die großen Pädagogiker üben 
charismatische Wirkungen auf ihre Zeitgenossen aus, ihnen 
verdanken sie das Prädikat groß; es ist mehr als wahrschein¬ 
lich, daß diese persönliche Wirkung nicht vor den Kindern 
haltmacht, sondern daß sie bei ihnen noch deutlicher und 
intensiver zur Geltung kommt. Dennodi sei bei weitem 
nicht, der künftigen wissenschaftlichen Untersuchung vor¬ 
greifend, behauptet, dieser Faktor sei allein oder beträcht¬ 
lich entscheidend. An ihm werde nur illustriert, wie es not¬ 
tut, den Erfolgs wert der einzelnen Methode und der Methoden - 
Systeme sorgfältig zu analysieren, wie ohne diese Analyse ein 
begründetes sicheres Urteil über die Zwedcrationalität eines 
pädagogisdien Mittels nicht abgegeben werden kann, wie die 
Pädagogiker und mit ihr die Pädagogik weit davon entfernt 
sind, diese allein fruditbare Haltung wissenschaftlicher Kritik 
und Einschränkung ihrer Intuitionen, ihrer Autismen, ein- 
zunehmen. 

Die Anerkennung all dieser Vorwürfe durdi den Leser 
wird weniger durch den Mangel ausführlich belegter Argu¬ 
mentation als durch ein affektives Element erschwert. Der 
Leser mutet sich selbst und dem Autor nicht zu, wir könnten 
hier in diesem Budi etwas gefunden haben, das all den — 
doch immerhin ungewöhnlichen — Köpfen, die die Pädagogik 
geschaffen haben, entgangen sein sollte. Es scheint ihm, wenn 
ich recht hätte, stünden wir an der Schwelle einer neuen 


42 


Epodie der Erziehung. Und er fragt sehr ungläubig und 
bescheiden, wie sollte dies möglidi sein, daß man in zwei 
Jahrhunderten nicht bemerkte, die Pädagogik sei ein Luft¬ 
gebäude? Wie könnte so überflüssiges Tun, als weldies sich, 
wenn idi nur Recht habe, die ganze Pädagogik erwiese, nicht 
als einmaliges Ereignis, nicht als Irrtum einer kurzen Periode, 
sondern als anhaltend geglaubte Übung zahlloser Menschen, 
die dodi gewiß ebenso klug waren als wir vielleicht sind, 
erhalten? 

Nun, mancher andere Aberglaube hielt audi Jahrhunderte 
stand und ist eines Tages durchschaut worden; und die ihn 
geübt hatten, waren nicht dümmer, nidit unbedeutender als 
die ihn gestürzt haben. Es wäre audi nidit sonderbar, wenn 
ein Autor behauptete, er führe eine neue Epodie herbei, 
und er Einige fände, die es glaubten, und erfahrungsgemäß 
hat audi gelegentlich ein Autor mit dieser seiner Behauptung 
recht gehabt. Also es gäbe allerhand Beruhigendes und Über¬ 
zeugendes zu sagen. Aber idi bin in der angenehmen Lage 
auf diesem Glatteis der Argumente nidit tanzen zu müssen. 
Idi kann affektiv beruhigen. Diese von mir nun lange genug 
gelästerte Pädagogik war und ist keineswegs wertlos; es ist 
nidit im mindesten erstaunlich, wenn sie herrschen konnte, 
wenn sie nodi herrschen kann. Es ist kein Beweis meiner 
besonderen Fälligkeiten, wenn idi schrieb, was man eben 
gelesen hat. Der Leser übernimmt sich nicht, wenn er mir 
glaubt; und wir stehen nidit an der Schwelle einer neuen 
Epodie, gewiß sind nidit wir es, die diese Schwelle zubehauen 
und gelegt haben. Bestenfalls sind wir über sie gestolpert 
und haben, aus Nase und Mund blutend, von ihrer Existenz 
Kenntnis nehmen müssen. Andere sind nicht so bös hin¬ 
gefallen. Auf unseren Hochmut folgte bescheidene Einsicht, 
und dazwischen liegt unser fall. 

Die Pädagogik, so wie sie wurde und ist, hat eine bestimmte 

43 




Funktion, die gerade an jene Eigensdiaften gebunden ist, 
weldie wir ihr vor werfen, die sie, unbeschadet der Fehler, weldie 
ihr unserer Meinung nach anhaften, erfüllen kann. Die 
Pädagogik, wie sie ist, entspringt einer Reihe von psychi¬ 
schen und sozialen Bedingungen, die in unserer, in der Zeit 
der unwissensdiaftiidien Pädagogik, gegeben sind, sie ist ein 
Instrument gewisser sozialer und psychischer Tendenzen 
unserer Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen. Sie 
ist ein taugliches Instrument gerade durch ihre Mängel. Es 
besteht hier eine Relation, die zu verstehen und zu beschreiben, 
Aufgabe einer Tatsachenwissenschaft ist. Ich habe die Resul¬ 
tate solcher wissenschaftlicher Untersudiung nicht wissen¬ 
schaftlich konstatierend, sondern wertend vorgetragen. Man 
kann dieser W crtung die polar konträre entgegensetzen. 
Entscheidend für diese Wahl ist, ob man die sozialen und 
psychischen Kräfte, die diese Pädagogik verlangen, akzep¬ 
tiert, als unvermeidlich gegebene hinnimmt oder als gewollte 
bejaht, oder ob man sie als variabel beurteilt und sie 
bekämpft. Verneint man sie, so wird man bemüht sein, sie 
ihrer Werkzeuge zu berauben. Die Pädagogik ist ein solches 
Werkzeug, so lange diese ihre Funktion unerkannt ist. 
Welches sind die geheimnisvoll angedeuteten Kräfte, deren 
Instrument die unwissenschaftliche Pädagogik ist, von deren 
Bejahung oder Verneinung diese Pädagogik ihren Wert oder 
Unwert, Gegenwert sogar, erhält? Wir werden die Funktion 
der Pädagogik verstehen, wenn wir das Wesen und die 
Funktion der Erziehung begriffen haben. Die folgenden 
Kapitel wollen dazu beitragen. Diesen Abschnitt zu beschließen, 
genügt vielleicht die beruhigende Versicherung an den Leser: 
es steht ihm frei, die Wertung der Pädagogik anzunehmen, 
die jede Lehrerbildungsanstalt tradiert, es steht ihm frei, 
meine Verurteilung der Pädagogik zu verurteilen, er möge 
sich aber erst die Einsicht holen, daß er sich so oder so 


44 




zugleich für eine Partei in den heutigen sozialen Weltkämpfen 
und gegen seinen Willen möglicherweise entschieden hat, und 
möge begreifen, auf welche Seite der Welt er geraten ist, 
unwissend, was er tut. Hätte ich nicht die Einmischung all 
dieser Wertfragen verhindern können? Hätte ich nicht ruhig 
und sachlich die Bezüge zwischen Erziehung — Psyche — 
Gesellsdiaft vortragen können und daher auch sollen? Ich 
glaube nicht, denn der wissenschaftliche Glaube hatte den 
Lesern doch gefehlt, die anders werten als idi. L nd warum 
sollte ich meinen Gleichwertenden, den Genossen in dem 
heutigen Kampf, dann nicht die Langeweile ersparen? 


45 




II 

VORAUSSETZUNG UND FUNKTION 
DER ERZIEHUNG 

Haben wir uns von den Forderungen befreit, die der Er¬ 
ziehung durch die Pädagogik zugemutet werden, indem wir 
erkannten, daß sie die letzte Instanz ist, die imstande wäre, 
die Grenzen der Erziehung zu ziehen, da sie ja vielmehr 
sidi vermißt, die Grenzsteine ins unendliche All zu ver¬ 
setzen, so können wir uns nunmehr der Erziehung selbst, 
wie sie wirklich ist, zuwenden. Wir werden versuchen, ihre 
Voraussetzungen und ihre Funktion in der Gesellschaft zu 
erkennen, in der Hoffnung, aus dieser Betrachtung zu 
erfahren, was ihre Grenzen derzeit sind. Daraus erst °wird 
sich die Basis für eine Erörterung ergeben, wie weit diese 
heute gegebenen Grenzen auch ihre notwendigen sind. 

Die erste Voraussetzung der Erziehung ist in einer Natur- 
tatsadie gegeben, der ontogeneti sehen Entwicklung. Wir 
mögen sie als selbstverständlich hinnehmen oder als kapri¬ 
ziöse Wunderlichkeit der Natur bestaunen oder in irgend¬ 
einer Weise in verständliche Zusammenhänge einreihen, sie 
* st gegeben und nur mit ihr Erziehung als ein Prozeß von 
allgemeiner Geltung. Kämen die Kinder als körperlich, 
geistig und sozial reife Individuen zur Welt, so gäbe es 

46 


keine Erziehung, denn all das, was die Erziehung leisten 
soll und zu leisten scheint: die Sicherung, Beeinflussung und 
Veränderung einer bestimmten körperlichen, geistigen und 
sozialen Entwiddung des Kindes, wäre durch die Mechanismen 
der Vererbung erreidit oder durch jene Vorgänge ersetzt, 
die vor der Geburt die Struktur des Neugeborenen determi¬ 
niert hatten. Da es nun aber Kindheit - ontogenetische 
postnatale Entwiddung - gibt, ist Erziehung als unvermeid¬ 
liche soziale Tatsache gegeben. 

Die soziale Tatsache will betont sein. Eine Kindheit, 
einsam verlaufend, erzwingt keine Erziehung. Hier ist kein 
fingiertes Beispiel im Kreise der Mensdiheit auszudenken; 
weil den Menschen von seinen sozialen Bezügen unabhängig 
vorzustellen unmöglich ist; das Wesen, mit dem sich dann 
die Phantasie befaßte, wäre kein menschliches mehr. Aber 
es gibt Tiergattungen, ja Klassen, genug bei denen die 
Kindheit die eigentlidie Lebenszeit ausfüllt, monatelang 
dauert, und zwar nadigeburtlidi, während der Erwachsenheit 
nur wenig Tage, Stunden Zeit gegeben ist. So etwa bei 
Sdimetterlingen. Und trotz der bestehenden Tatsache Kind¬ 
heit gibt es nichts, was als Erziehungsprozeß anzusprechen 
wäre, weil diese Kindheit nidit in Gesellschaft verlebt wird. 
Die Kindheit verläuft als Resultat der angeborenen Reaktions¬ 
tendenzen und -Weisen auf die Vorgefundenen konkreten, 
zufälligen oder allgemeinen Lebens umstände. Erziehung gibt 
cs nur dort, aber überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft 
abläuft. Ihre Voraussetzungen sind diese zwei: die biologische 
und die soziale Tatsache. 

Diese Formel bedarf noch einer Einschränkung, soll sie 
wirklidi allgemein gelten. Man erlaube eine Fiktion. Wir 
suchen ja die innerste Grenze, den Fall, in dem Erziehung 
gewißlich statthat; wie anders sollen wir sie finden, als durch 
Konstruktion solcher, in denen sie nicht wäre; so erst 


47 



prüfen wir, ob ein solcher Fall nodi ein menschlicher wäre. 
Gesetzt also, die Mutter legte ein schönes, großes Ei; so 
lächerlich wir diese Phantasie finden mögen, sie muß doch 
etwas Verlockendes in sich bergen, versidiert doch der gute 
Lykosthenes in seinem Wundertheater 1557 mehrmals: 
,So sagt man das inn Selenitide die weyber nit gebären wie 
andere Frau wen, sonder sie legen eyer wie anders geflügel, 
die selbigen brüten sie auß, und werden menschen so auß 
denselben schalen schlieffen, größer dann sonst ftinffzehen. 
Glaub wohl Lucianus hab deren ettlich im Morland ge¬ 
sehen.“ Und sehr überzeugende Holzschnitte sichern den 
Fall. Ferner sei in Selenitide, was Lucianus nur zu 
berichten vergaß, die Sitte, daß alle Mütter die gelegten 
Eier an einem Ort, weitab von den Behausungen des 
Stammes niederlegen. Die jungen Menschlein, die aus den 
Eiern kriechen, so unseren Einjährigen entsprechend, 
leben nun, indem sie entsprechend ihren angeborenen 
Instinkten und den konkreten Bedingungen der Biosphäre 
handeln, wachsen und sich' verändern, bis sie ihrem 
Instinkt entsprechend nach einigen Jahren eine weite Wande¬ 
rung antreten, an deren Ende sie sich in den Armen ihrer 
Väter und Mütter finden, die bereits unruhig auf sie warten. 
In diesem Grenzfalle wäre Kindheit und Gesellsdiaft, aber 
dennoch keine Erziehung, wenigstens keine in den Jahren 
zwischen der Geburt und der Beendigung jener Wander¬ 
schaft. Denn die Gesellsdiafl, in der diese Kinder auf- 
wüchsen, wäre eine reine Alter sk lassengesell sdia ft, die völlig 
dem physisdien, psydiischen, geistigen Niveau ihrer Bürger 
entspriait. Es gibt in ihr keine Erwachsenen. Erst deren 
Vorhandensein wird der Gesellschaft eine Struktur geben, 
in der die Erziehung ihren Platz findet. Kindheit, in einer 
Erwachsenen gesellsdiaft verlaufend, das ist die Voraussetzung 
für die Erziehung. 


48 



Verlassen wir die Selenitiden und anderes Getier. So 
mannigfaltig menschliche Gesellsdiaften strukturiert sein 
mögen, das Kind hat von Geburt an eine Stelle in ihnen. 
Es muß eine bestimmte Menge Arbeit für es von der 
Gesellschaft geleistet werden, sie hat irgendwelche Einridi- 
tungen, die nur wegen der Entwicklungstatsadie bestehen, 
gewisse Einstellungen, Verhaltungen, Ansdiauungen über 
sie. Die Kindheit ist irgendwie iin Aufbau der Gesellschaft 
berücksichtigt. Die Gesellschaft hat irgendwie auf die Ent- 
widdungstatsadie reagiert. Idi schlage vor, diese Reaktionen 
in ihrer Gänze Erziehung zu nennen. Die Erziehung ist da¬ 
nach die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die 

Entwicklungstatsadie. 

Der Begriff der Erziehung erfährt durch diese Definition 
gewiß eine ungewohnte Erweiterung, die aber nicht un¬ 
erwartet sein kann, denn betrachtet man die Erziehung als 
gesellschaftlichen Prozeß und nidit wie die Pädagogik als 
System von Normen und Anweisungen, so wird der Umfang 
der zu betrachtenden und in einem Begriff zu vereinenden 
Erscheinungen natürlicherweise größer. Der Pädagogik wird, 
ein extremes Beispiel zu geben, die sehr differente \V eise, 
in der verschiedene Zeiten, Klassen, V ölker ihre Kindei 
bekleiden (Kindertracht und -Mode), nicht als Erziehungs- 
faktum erscheinen, sic wird darüber nicht geordnet nach- 
denken, während unsere Betraditungsweise — nennen wir 
sie die erziehungswisscnschaftlidie — hier eine Reaktion der 
Gesellschaft auf die Tatsadie Kindheit sieht, also ein be- 
aditenswertes Objekt ihrer Bemühungen. Der Grund für 
dieses unterschiedliche Verhalten liegt keineswegs darin, daß 
die Kindertradit kein Stück der Erziehung i s t, sondern daß 
die Pädagogik sie nicht als soldie wertet. Sie setzt voraus, 
- woher hat sie das nur? aber so ist sie eben; ihr gibt es 
Gott als der Seinigen im Schlafe, - daß diese Maßnahmen 


Bern fei d, Sisyphos 4 


49 


zur Erreichung ihrer Ziele irrelevant sind. Wollen wir werte¬ 
frei betrachten, so ist zu prüfen, ob diese Irrelevanz besteht. 
Dies kann nur Aufgabe der Erziehungswissenschaft sein. 
Sie wird beurteilen, ob es „gute” oder „schlechte” Erziehung 
in Bezug auf ein bestimmtes Ziel ist, aber Erziehung bleibt 
es auf jeden Fall: eine gesellschaftliche Maßnahme gegen¬ 
über Kindern. Von der Pädagogik und ihren Wertungen 
befreit, haben wir gar keine andere Möglichkeit, als alle 
spezifisch Kindern geltenden Maßnahmen der Gesellschaft 
Erziehung zu nennen. Oder, da es ja auf die Definition und 
den Terminus nicht ankommt, als Erziehung zu behandeln, 
d. h. in diesem Zusammenhang: ihre Funktion zu verstehen. 
Was die Pädagogik Erziehung nennt, die bewußte, die Er¬ 
ziehung im engeren Sinne ist ein Spezialfall, dessen spezi¬ 
fische Funktion zu untersuchen ist. Diese bewußte Erziehung 
ist ein historisch spätes Produkt. Wie sollen wir es verstehen, 
wenn wir die Funktionen nicht kennen, aus denen es sich 
differenzierte? Es gab doch - und es gibt - Gesellschafts¬ 
strukturen, die Erziehung im engeren Sinne nicht kennen, 
und doch haben sie organisierten Raum für die Kindheit, 
und doch werden in ihnen ganz dieselben Bräuche gepflogen, 
die später bewußte Erziehung heißen. Ist denn ein Unter¬ 
schied zwischen dem strengen Blick, den ein erboster 
Kaffervater seinem Knaben zu wirft, und dem mahnend 
strafenden Blick des Pestalozzi, weil dieser als ein zum 
idealen Ziel führendes Mittel gepriesen wird, jener aber 
gänzlich ohne Reflexion und ohne Ziel aus erst zu findenden 
Gründen geschleudert wurde? Wir mißtrauen der Pädagogik 
und glauben nicht, daß die Aufgaben, die sie der Erziehung 
setzt, auch ihre wirkliche gesellschaftliche Funktion sind. Wir 
ahnen, daß diese Funktion verschleiert, unbekannt bleiben soll. 
Warum sollen wir uns an die Definition der Pädagogik halten? 
Zweifellos verhindert sie die Erkenntnis der F unktion der Er- 


50 




Ziehung im engeren Sinn, indem sie Fakta der Erziehung nadi 
gewissen Werten und Normen sich zurcchnet oder von sich aus- 
sdiließt. Und wenn die bewußte Erziehung wenigstens scharf von 
der übrigen abgrenzbar wäre, dann würden wir eher den Schritt 
der Erweiterung bedenken. Der Übergang aber ist stetig, 
alles fließt, wir fassen nirgends ein Festes, Einheitliches. So 
versuchen wir, beruhigt, wie weit uns die loseste, um¬ 
fassendste Formel führt. Vielleicht gibt es ein Prinzip, das 
alle mannigfaltigen Reaktionen einer Gesellsdiaft auf die 
Entwiddungstatsache, ihre ganze Erziehung also, einheitlich 
determiniert, treibt, regelt. Dann freilidi wäre die termino¬ 
logische Erweiterung zugleich eine Erkenntnis. 

Auf diese Möglichkeit einmal aufmerksam gemacht, wird 
sie durdi den flüchtigsten Blick auf Erziehungs- und Kultur¬ 
geschichte bereits plausibel. Die zweite Hälfte des XVIII. Jahr¬ 
hunderts, das jene Umwälzungen der Pädagogik gebradit 
hat, die durch Namen wie Rousseau und Pestalozzi bezeichnet 
werden, die das Schulwesen im heutigen Sinn schuf, sie hat 
auch .lugendsdiriften und Kinderkleidung, Kinderzimmer und 
Kinderrecht, die Auffassung vom Kind in der Literatur und 
Kunst, in Wirtschaft und Politik wesentlich verändert, sie hat 
die grundsätzliche Veränderung der Einstellung der All¬ 
gemeinheit wenigstens begründet. Alle diese nicht eigentlidi 
zur Erziehung im engeren Sinne gehörigen Gebiete stehen, 
so scheint es, in einem gegenseitigen Zusammenhang, sie 
sind funktional miteinander verknüpft, auch wenn diese 
gegenseitige Abhängigkeit dem Zeitalter völlig unbewußt ist. 
Und diese Änderungen in der Erziehung fallen mit großen 
sozialen und kulturellen Wandlungen der Gesellschaft zu¬ 
sammen, sie gehören zu jenen Bewegungen, die in die 
Revolution mündeten, die nach ihr wirksam und gestaltend 
zu werden begannen. Sie stehen also - scheint es weiter - 
in funktionalem Zusammenhang mit den gesellschaftsbildenden 


4 * 


5* 


und -umhandelnden Kräften, letzten Endes mit der Form 
und den 1 endenzen des wirtschaftlichen Prod uk tionsprozesses. 
Und dies gilt keineswegs nur für die revolutionäre Epoche 
des ausgehenden Kapitalismus seit 1789, sondern wo und 
wann immer Wandlungen der Erziehung im engeren Wort¬ 
sinn zu sehen sind, dort finden sich zugleidi, voraufgehend 
oder nachfolgend, entsprechende Wandlungen der Erziehung 
in unserem weiteren Sinn. Jene ist kein isoliertes Phänomen, 
sondern Symptom oder Folge einer tieferen Wandlung, fast 
so sehr, daß man versucht wäre, zu sagen, einer veränderten 
Reaktion der Gesellschaft auf die Entwiddungstatsadie. 

Ein sehr merkwürdiges, von der Pädagogik gänzlich 
unbeachtetes L aktum hemmt uns so zu allgemein zu formu¬ 
lieren und läßt uns einen wesentlich komplizierteren Tatbestand 
erwarten: Es gibt Konstanten in der Erziehung. Erziehungs¬ 
maßnahmen und Einrichtungen, die so alt sind wie Erziehung 
selbst, so alt demnach als die Menschheit, die im ganzen 
Lauf der Gesdiidite sich völlig unverändert erhalten haben, 
denen keine Änderung des Produktionsprozesses, kein neues 
Zeitalter, keine Religion, nidit Revolution, nicht die grund- 
stürzende kulturelle Wandlung etwas anhaben konnten, die 
bei jeder Rasse, in jedem Volk, in jeder Klasse, in jeder ihrer 
Entwicklungsstufen völlig gleichartig sind. 

Diese Konstante durchzieht alle variierenden Erziehungs¬ 
maßnahmen und -einriehtungen. Wir werden sie natürlidi 
als Eigenschaft jener Reaktion betrachten, deren Gesamtheit 
die Erziehung ist. Die Reaktion besteht aus zwei Gruppen 
von Erziehungshandlungen (und - einrichtungen), konstanten 
und variablen. Man begreift, daß diese Unterscheidung sehr 
wichtig ist für die Rationalisierung der Erziehung. Denn sie 
kann uns belehren, daß alle Änderungsbestrebungen völlig 
hoffnungslos sind, soweit sie sich auf den konstanten Faktor 
der Reaktion beziehen - wenn dies konstant mehr sein 


52 



sollte als eine zufällige historlsdie Tatsadie, und sie lehrt 
uns das Augenmerk, Forsdiung und Bemühung auf die 
Schlüsselstellung riditen, wenn |ene Konstanz endlidi zu 
einer bloß nodi historisdi interessanten Ersdieinung 
werden soll. 

Die konstante Reaktion finden wir besonders aufdringlkh 
bei den Erziehungsphänomenen, die sidi in der Paargruppe 
ergeben, wenn eine Erziehungshandhing von einem einzelnen 
Erzieher zu einem einzelnen Kinde abläuft, dieser sei nun 
V ater, Mutter, Erzieher oder sonst eine erziehende, erwadisene 
(gegebenenfalls relativ erwadisene) Person. Wo immer diese 
Paargruppe hergestellt ist, ergibt sidi die Müglidikeit des 
Konfliktes, daß der Wille des Erziehers dem Willen des 
Kindes nicht entspridit - idi denke hier rein formal, ohne 
Erwägung der Ursadien des Konfliktes. Der Erzieher wird 
Mittel suchen, den widerspenstigen Willen des Kindes auszu- 
sdialten. Er habe in einem konkreten Fall sidi des Mittels 
bedient, dem Kinde, solange es widersteht, Unlust zuzufügen; 
er straft es, heißt das. Unter diesen Strafen sind einige 
konstante, die allemal unter allen Varianten Erziehungs¬ 
bedingungen auftreten können, nämlidi jene psychischen 
Reaktionen, die im Falle der Störung des eigenen Willens 
der entstandene Affekt erzeugt, und die ausgelebt werden, 
wenn keine hemmenden Bedingungen vorliegen. Die kürper- 
lidie Aggression wird jedem feindseligen Affekt folgen, wenn 
nidit die Angst vor dem Gegner sie hemmt, oder die Angst 
vor anderen folgen dieser Hemmungslosigkeit. In der isolierten 
Paargruppe fallen alle hemmenden Instanzen fort, denn der 
Erwadisene hat keine Angst vor dem Kinde. Der Affekt hat 
seinen Lauf,audi dann, wenn er nidit rational ist, der Zweck nicht 
garantiert, ja selbst ausgesdilossen ist, denn alle Zwecke erlö¬ 
schen vor dem Affekt. Er setzt einen neuen Zweck an ihre Stelle, 
den: seine triebgemäßen motorisdien Abfuhren auszuleben. 


53 


Die Konflikte sowohl wie das Fehlen der hemmenden In¬ 
stanzen gehören zur Entwicklungstatsadie, die Reaktion darauf 
ist gewiß eine Erziehungstatsadie. Konflikte zwischen dem 
kindlichen Willen und dem des Erwadisenen müssen in der 
Paargruppe entstehen, weil Kind sein geradezu heißt: rück¬ 
sichtslos der eigenen Lust leben - und die Gruppe nidit so 
strukturiert ist, nicht sein kann, daß jeder Lu st wünsch des 
Kindes in ihr erfüllbar wäre. Das Kind ist andererseits 
machtlos, da die Madit letzten Endes auf der physischen 
Gewalt beruht. Der Erwachsene braudit keine Furdit vor ihm 
zu haben, die wichtigste und älteste Hemmung des freien 
Affektlaufes fällt demnach weg. Wo ideologisdie oder mo¬ 
ralische Bedenken irgendwelcher Art die Furcht ersetzen, da 
liegt kaum mehr eine reine Paargruppe vor, da ist sie 
durchsetzt von den Wirkungen ihr übergeordneter gesell- 
schaftlidier Gruppen. Aber wer glaubt, daß diese Ersatz¬ 
motive der Hemmung wirklich und in großem Umfang und 
auf die Dauer wirksam sind? Der Mensch ist Sklave der 
seelischen Abläufe in ihm, aus denen er schließlich besteht. 
Je gehemmter sein Affektleben in den Gruppen abläuft, in 
denen sein Leben auf dem Spiel steht, — in denen seiner 
Miterw adisenen steht es auf dem Spiel, sie können ihn zum 
Hungertod, zum Seelentod verurteilen, wenn er ihre weislich 
gesetzten Grenzen überspringt, sie können es ohne Gerichts¬ 
verhandlung und Spruch, ohne es zu gestehen und ohne daß 
sie als Ursache sichtbar würden, - je stärker Furdit und 
Ideologie, Moral, Religion das ursprünglidie Seelenleben der 
Erwachsenen einer Gesellschaft einengt, um so eher und lieber 
werden sie von der Furdit befreit — vor dem Kinde also — 
sidi auch noch von den Furchtersätzen zu befreien wissen, 
hier wenigstens aus dem Vollen, aus den 'Liefen ihres Affektes 
zu leben. Wie leicht wird sich eine Philosophie finden, die 
solchen Ausbruch — Ausbruch sei ein beschreibendes, kein 


54 





wertendes Wort - reditfertigt, als unfehlbare Methode den 
von ihr deduzierten letzten Erziehungszwedt 7,11 erreichen. 
All dies erwogen; wer zweifelt noch, es werden wo immer, 
wann immer Mensdien (nidit Aifcn, nidit Engel) in der Paar¬ 
gruppe wirken, als ewige Konstante den ungebrochenen 
Ausbruch des erwachsenen Affektes vorfinden, w r er wird nicht 
ungläubig staunen, wenn ihm anderes zu erwarten zugemutet 
würde. 

Der Leser, den idi mir als Bürger unseres Halbwertjahr¬ 
hunderts vorstellen muß, solange er sich mir nidit als anderen 
vorgestellt hat, empfindet sidicrlich, daß idi „schimpfe , daß 
ich es anders haben mödite. Idi muß midi daher bemühen, 
jede Möglidikeit des Mißverständnisses zu vermeiden. Darum 
sei aufmerksam gemadit, Affekt ist so wenig etw'as Unan¬ 
ständiges als seine Ungebrochenheit notwendig ein Böses sein 
muß. Was für die Strafen gilt, die Aggressionsaffekten ent¬ 
springen, gilt gleicherweise für alle jene milden Formen der 
Erziehung (in der Paargruppe), die der Liebe entspringen. 
Sie und ihre ungebrochene Äußerung ist gleidiialls eine 
konstante Reaktion in der Paargruppe. All das Gesagte gilt 
auch für sie. Audi daß ungebrochene Liebcsübung Redit- 
fertigung bei Philosophie und Pädagogik sudit. Und - braudit 
es der Betonung? — findet. Heute a u di iindet. Die Reform¬ 
pädagogik predigt das Evangelium der Liebe in der Erziehung* 
idi lese es gern und übe es w'illig. Aber daß dieses zweck- 
rationaler wäre als die Haßpädagogik, das ist unriditig. Es ist 
zumindest nicht entsdiieden. Daß es neu wäre, ist sidier 
unriditig. Beide Formen sind Konstanten. Unvermcidlidie. 
Denn auch dies gilt für die unendlich sympathischere, aber 
darum keineswegs minder tiefen Sdiiditen entquellende Liebe, 
daß sie mit der Entwidtlun gstatsadie gegeben ist. Kinder 
werden geliebt, aus keinem anderen Grund sdion, als weil 
sie Kinder sind. Und die hemmenden Instanzen sind gegen- 


55 


über dieser Liebe milder als gegenüber der Liebe zu den 
Miterwadisenen. Diese ist in engste Grenzen gebannt, während 
jene in breiteren Bahnen fließt. In unserer Zeit ist - paradox 
genug — gerade die Liebesreaktion gehemmter als in anderen. 
Die Indianer haben eine tiefe Scheu davor, das Kind irgend 
empfmdlidi zu strafen; als letztes Mittel der Disziplinierung 
ritzen sie Ieidit die Hand des schlafenden Kindes und zeigen 
ihm morgens das Mal, mit dem sie Manitou zeichnete. Bei 
uns werden Sdiulmeister verjagt, aus keinem anderen Grunde, 
als dem, daß sie zu wenig Zucht - mit welchen Mitteln, gilt 
beinahe gleidi - zu halten wußten. Wir haben Furcht vor 
ungebrochener Liebe. Mehr Furcht als vor ungebrodienem 
Haß. Mit Recht, er gefährdet ein Menschenleben; sie die 
herrschende Ordnung und den Aufbau aller Menschenleben: 
das Kapital und seine Herrschaft, sagt die Wissenschaft des 
großen Marx. 

Diesen letzten Satz hätte ich besser nidit sdireiben sollen. 
Er ist in diesem Zusammenhang nicht unerläßlich und schlägt 
manchem Leser bloß vor den Kopf; die Bretterwand aus 
Philosophie, Ethik und anderen soit disant-Kenntnissen aus 
dessen Mittel Schulzeit schließt sich dichter bei diesem Schlag 
und läßt nodi weniger von den folgenden Sätzen durch, als 
ohnedies von ihm zu erwarten gewesen wäre. Schadet mir 
jene Bemerkung auch mein* als sie nützt, so wird meine 
didaktische Ungeschicklichkeit den Dank der Pädagogik ernten, 
denn es wäre einigermaßen ihr Ende, wenn alle Leser frisch 
und gläubig die Nutzanwendung der Tatsache der individuellen 
psydiologisdien Konstante hörten. Handelt dodi der über¬ 
wiegende Teil aller Erziehungslehren von der Paargruppe. 
Sie ist Lockes, sie ist Rousseaus, sie ist Herbarts pädagogische 
L'rsituation, sie ist der wichtigste Bestandteil in Komenskys, 
sie ist ein wesentliches Stück der Pestalozzisdien Konstruk¬ 
tionen. Sie ist das Objekt jeder Erziehungslehre, die über 

56 



die Erziehung durdi die Eltern nadidenkt, also des meisten, 
was von heutiger Pädagogik noch übrigbleibt, wenn man ihr 
die Didaktik abtrennt. Und selbst in diese spielt sie nodi 
beträditlich hinein. Denn selten nur wird die Schule als eine 
besondere Gesellungsform gesehen, aus der sidi eigenartige 
Wirkungen und Formen ergeben. Den meisten Pädagogikern 
erscheint die Schule, die Sdiulklasse als eine Summe von 
Paargruppen; sie beschreiben die Vorgänge in der Schule 
daher falsch und fordern Maßnahmen und Einrichtungen, die 
sie der Paargruppenerfahrung entnehmen. Die huuptsädi- 
lidisten Bemühungen der Pädagogiker gelten den Konstanten 
psydiisdien Verhaltens Erwachsener zu Kindern, den unver¬ 
änderbaren, historisch wenigstens unveränderten Charak¬ 
teren mcnsdilidier Aktion überhaupt. Die Gesdiidite dieser 
Pädagogik ist ein Zusammenlegspiel, bei dem die gleichen 
Bestandteile in immer neue Formen gelegt werden, ge¬ 
legentlich sehr hübsche Figuren, gelegentlich wieder mit 
allen Steindien, zuweilen mit den roten und blauen, 
ein andermal mit 'den sdiwarzen und grauen gefügt. Daß 
die Wirkungen solcher Pädagogik auf die Erziehung nahezu 
null sind, leuditet ein. Denn sind jene Affektreaktionen auch 
in gewissem Grade beeinflußbar, kaum durdi Lektüre einer 
Predigt oder tausender Predigten, die den ewigen Abläulcn 
psydiisdien Geschehens ein gedrucktes Wort entgegenhalten. 

Dies genüge zur Ergänzung des Kapitels, das die Grenzen 
der Pädagogik bestimmte; und in Fortsetzung der Sudie von 
Grenzen der Erziehung wollen wir den Eindruck näher 
analysieren, den die Kulturgesdiidite gibt; als wäre die indivi¬ 
duelle psydiisdie Konstante dodi gewisser Variationen fähig. 
Es ist doch so, als herrsdie eine Tendenz zur Hemmung der 
aggressiven Aktionen, als humanisiere sich die Erziehung in 
der Paargruppe. Eine irgendwie gesidierte Erfahrung ist hier 
freilich nidit zu gewinnen, denn wir haben keine Kenntnis, 


57 



keine genügend umfängliche Kenntnis davon, wie vor hundert, 
wie vor dreihundert Jahren erzogen wurde. W;ir wissen bei¬ 
nahe aussdiließlich, wie pädagogisiert wurde. Und haben die 
Überzeugung, daß das reale Verhalten der überwiegenden 
Massen von den Idealen der Pädagogen w r eit abstand. Polemi¬ 
sieren sie Ja, predigen sie ja unermüdlidi. Produziert das 
XVII. Jahrhundert Predigten an Eltern und Erzieher, die 
Kinder nicht zu verwöhnen, zu verzärteln, sie frühzeitig an 
Zucht zu gewöhnen (probaterweise durch Züchtigung), so 
schreit das XX. Jahrhundert nach dem Recht der Kinder 
und predigt ebenso leidensdiaftlich die Liebe zu ihnen. Jenen 
Predigern standen Eltern vor Augen, die diesen neuen Pre¬ 
digern Lust gewesen wären, und sie beschimpften sie. Sollte 
es heute solche nicht mehr geben? Erziehen heute alle im 
Geschmack des Barock? Unwahrscheinlich. Beide Verhaltens¬ 
weisen waren heute wie je. Aber jeweils bedarf ein anderes 
der ideologischen Rechtfertigung. Vielleicht sind auch die 
statistischen Verhältnisse temporär verschieden. Die Zahl der 
Menschen mit vorwiegend aggressiven Affekten gegenüber 
Kindern könnte zum Beispiel im XIX. Jahrhundert größer 
geworden sein oder vielleidit auch abgenommen haben. Je 
nachdem, ob die allgemeine Humanisierung der Aggressions¬ 
äußerungen, die wohl einen gewissen Fortschritt macht, auch 
auf die erzieherischen Vorgänge in der Paargruppe direkt 
ermäßigend wirkt oder nicht. Solche Ermäßigung ist möglich. 
Audi umgekehrte Änderungen sind nicht unwahrscheinlich: 
daß eine Zeit oder eine bestimmte soziologische Gruppe 
weitergehend als andere, den Liebesaffekt hemmt. Wer italieni¬ 
sches Volksleben mit deutschem Bürgerleben vergleicht, wird 
finden, daß die italienischen Kinder in einem Strom von 
mütterlicher und väterlicher Liebe leben, der nicht selten von 
ungebrochenem Aggressionsaffekt gestört, dodi voller und 
ununterbrochener fließt als bei deutschen Bürgereltern. Aber 


5« 



all diese Schwankungen sind verhältnismäßig gering, sie sind 
nidit sidi er erwiesen und — vielleicht bloß darum — schwer 
formulierbar. Die reinen Extremtypen sind selten, die innige 
Mischung ist häufig. Wahrscheinlichster Zustand, daß Jeder¬ 
zeit die überwiegende Menge der Erwachsenen in der Paar- 
gruppe dem Mischtypus angehört, so daß derselbe Mensch 
sidi inkonsequent, in aufeinanderfolgenden Situationen sidi 
verschieden verhalten wird, zwischen Extremen sich bewegen 
wird, die ihrerseits in gewissem Abstand von dem in 
einer bestimmten Zeit nodi als normal geltenden Verhalten 
liegen werden. Audi Handlungen, die über die Grenzen 
des eben nodi Anständigen hinausgehen, werden nidit allzu 
selten sein, aber an Zahl und Bewertung nidit als gewöhn- 
lidie lalle gelten. Überblickt man große Zeiträume der 
gesdiiditlidien Entwicklung, so finden sidi Andeutungen, die 
als Entwicklungsbahn eine allgemeine Humanisierung for¬ 
mulieren lassen, also eine gewisse Tendenz, den Aggressions¬ 
affekt in seiner aktuellen Entladung zu mäßigen, neben der 
Tendenz, in gleidier Weise den Ausdruck des Liebesaflektes 
zu hemmen. Aber vielleidit täusdien hier die w r enig sdiarf 
beschriebenen Tatsachen. Jedenfalls ist deren Deutung so 
überaus erschwert, weil die Phänomene der kulturgesdiidite 
das Resultat unbekannter Vermengungen von individuellen 
und kollektiven Prozessen sind. 

Wollen wir diese gesondert studieren, so bieten sidi uns 
als geeignete Objekte so merkwürdige gesellsdiaftlidie Ord¬ 
nungen, wie sie sich bei den zahlreichen Naturvölkern vor- 
iinden, die in der Alters kl assengesellsdiaft leben oder deut¬ 
liche Züge aus dieser Gesell sdiaftsform der Mensdiheit er¬ 
halten haben. Hier ist das Kind, mit der Mutter, beziehungs¬ 
weise den Frauen des Stammes aufw adisend, das Objekt des 
ungebrodienen Ausdrucks von Liebesaffekten, was natürlidi 
nicht ausschließt, daß es gelegentlidi V ersagungen seiner 


59 



Wünsche erfährt und in mancher Konfliktssituation mit 
aggressiven Affekten seiner erwadisenen Umgebung Bekannt¬ 
schaft macht. Aber die Gelegenheiten zu solchen Konflikts¬ 
situationen sind verhältnismäßig selten und eine stark zärtlich 
gerichtete Liebe der Mutter ist auf das Kind gerichtet. Sdiam-, 
Ekel- und Inzestschranken sind gar nicht oder weniger hemmend 
zwischen Kind und Mutter aufgerichtet. Ja, selbst solche 
Erziehungsmaßnahmen, die uns als ganz selbsverstandliche 
und völlig unvermeidlidie ersdieinen, wie die Entwöhnung, 
fehlen. Das Kind bleibt an der Mutterbrust, bis ein jüngeres 
geboren ist, und teilt dann mit diesem die Genüsse, im 
Grunde solange, als es die Muttermilch nidit freiwillig auch 
als Zukost verschmäht. Dieses paradiesisdie Mutter-Kind-Idyll 
findet ein jähes Ende, wenn jenes Alter erreidit ist, das im 
betreffenden \ olk traditionell für die Vorbereitung zur Auf¬ 
nahme in die männliche erwachsene Gesellschaft bestimmt 
ist, also so etwa zwisdien dem siebenten und dreizehnten 
Jahre. Die Knaben werden nun den Müttern weggenommen, 
und zwar vom Vater oder sonstigen Repräsentanten des 
Männerbundes, gelegentlidi gewaltsam. Und sie werden einer 
ganz andersgearteten Behandlung unterworfen, der Knaben¬ 
weihe, dem Pubertäts- oder Initiationsritus. Dessen Dauer, 
formen und Inhalte variieren sein* beträchtlich seihst bei 
verwandten oder benachbarten Völkern, doch werden allemal 
die Knaben abgesondert von der Behausung der Mütter 
gehalten, im Männerhaus, in einem eigenen Beschneidungs- 
haus, in einem Hain oder im Zauberwald. Sie werden hier 
durch Fasten, durch körperliche Torturen aller Art und durch 
Unterricht zur eigentlidien Weihe vorbereitet. Diese besteht 
im wesentlichen darin, daß die Knaben feierlich und unter 
Pomp von ihren Vätern symbolisch getötet und zum Leben, 
zum neuen Leben als Männer wiedererweckt werden, sie 
erhalten die Stammesabzeichen, Beschneidung, Tätowierung, 


60 



Zahn-, Lippen-, Ohrenverstümmlungen oder wenigstens einen 
neuen Namen und gewinnen damit die Rechte des Mannes, 
in erster Linie die Freiheit des Geschlechtsverkehrs, natürlich 
nur Jene Freiheit, die die aufnehmende Gesellsdiaft dem 
Geschlechtsleben gewährt. Der Grausamkeit entbehrt keine 
Form der Knaben weihe, sie ist ein hervorstediender Zug des 
ganzen Arrangements. Sie ist nicht selten zu den exquisitesten 
Martern gesteigert. So wird die folgende liebenswürdige 
Episode aus dem Initionsritus der Koffern (von Ploß) be¬ 
schrieben: Die zirka vierzehnjährigen Burschen werden in 
einer Reihe aufgestcllt; jeder hat ein paar Sandalen in den 
Händen; die älteren Leute, mit langen Ruten oder Gerten 
bewaffnet, stellen sich vor ihnen auf, bzw. schwingen die 
Ruten springend und tanzend. „Willst du den Häuptling 
schützen?“ fragen die Tänzer einen Knaben. „Ich will,“ ant¬ 
wortet dieser und erhält gleich darauf Rutenhiebe, gegen die 
er sich mit seinen als Schild gebrauchten Sandalen zu schützen 
sucht, die ihm aber doch blutige Streifen auf dem Rücken 
zurücklassen. Er springt grinsend umher, darf sich aber nicht 
zurüdeziehen. Dann folgt die zweite Frage: „Willst du das 
Vieh hüten?“ - „Ja.“ - Und abermals fallen Rutenhiebe auf 
seinen Rücken nieder. Nach Überstehung dieser Probe fühlt 
sich der junge Kaffer als Mann und gilt als solcher; ohne sie 
würde er nie von einem Kaffernmädcfaen geliebt werden. — 
In Australien ist das Zahnausschlagen der Höhepunkt der 
Zeremonien. Die Jünglinge werden durch ihre Väter in den 
Festkreis gebracht, den Kandidaten 1 werden im Kebarrah- 
Gesang die Qualen geschildert, denen sie sich unterwerfen 
müssen. Dann schreitet man zuin Ausbrechen eines Vorder¬ 
zahnes. Dies wird so ausgeführt, daß man in einen Baum¬ 
stamm ein Lodi madit, in weldies man einen Stab von hartem 
Holze steckt; dann bringt man den Zahn in Berührung mit 
dem Ende des Stabes, indem eine Person den Kopf des Knaben 


61 



in der richtigen Position hält, worauf eine andere den Kopf 
von hinten nadi vorn stoßt. Die Erschütterung bewirkt, daß 
der Zahn meist mit einem Teil des anhängenden Zahn¬ 
fleisches ausfällt. Einige dabeistehende Männer drohen dem 
Knaben, ihn sofort zu töten, wenn er Schmerz äußere, 
■während andere ihm mit scharfen Steinen lange Streifen auf 
den Rücken und auf jede Sdiultcr schneiden. Sobald das 
Opfer Klagen laut werden läßt, verkünden die Operateure 
mit Geschrei, daß der Unglückliche nicht wert sei, sich unter 
die Männer des Stammes zu misdien. Hält aber der junge 
Mensch die Qualen ohne Zucken aus, so tritt er hiemit in 
den Rang eines Jägers und Streiters ein; man umringt ihn 
und übergibt ihm das Mundi, d. i. ein Stückchen kristallheller 
Substanz, welches vor den W eibern stets verborgen gehalten 
wird. Schließlich begrüßen Männer und Weiber den Auf¬ 
genommenen, den man mit Schild und Kriegs waffen ausrüstet. 

Soldie Riten sind nidit sonderbares Resultat der sadistischen 
Verirrung der einzelnen Völker, sondern eine allgemeine 
Erzieh ungseinridi tung bei vielen Völkern, mit so vielen 
typischen, häufig wiederkehrenden oder auch nie fehlenden 
Zügen, daß die Annahme nahe liegt, sie gehören einer gewissen 
Gesellschaftsstruktur notwendig zu, und zwar der sogenannten 
Altersklassengcseilsdiaft. Diese wieder mag sehr wohl, wie 
die Soziologen vermuten, eine allgemeingültige Durdigangs- 
stufe menschlicher Entwicklung sein. Sie wäre dann eine der 
ältesten, wenn nicht die älteste Gesellsdiaftsstruktur, die wir 
aus ihren noch heute vorhandenen Resten voll rekonstruieren 
können. Die Riten, aus denen die Proben entnommen sind, 
sind streng typische. Es fehlen ihnen manche extreme Züge von 
Aggression. Sie sind in zahlreichen mehr weniger leichten 
Varianten belegt. Wir wollen auch festhalten, daß die Initi¬ 
ationsriten die ältesten uns bekannten organisierten Kollektiv¬ 
maßnahmen der Erwachsenen gegenüber der Kindheit sind. 


62 



Während die Erziehung des Kindes durdi die Alutier der 
Organisierung entbehrt, bloß aus natürlichen, d. h. individual- 
psydiologisdi verständlichen konstanten Reaktionen besteht, 
keinerlei Erfindungen sozusagen beinhaltet, haben wir in 
dieser Aggressionsorgie der Väter Maßnahmen vor uns, die 
über die individualpsydiologisdie Verständlichkeit hinaus¬ 
gehen, Jene ist die Erziehung in der Paargruppe, diese in 
einer Mehrheitsgruppe, kollektive Erziehung, organisierte 
Erziehung in der Gesellschaft und der Gesellschaft. Im An¬ 
fang der organisierten Erziehung steht die Aggressionsorgie. 
Ja dies ist ihre organisatorisdie Leistung, daß sie die aggressiven 
Abläufe aus der Paargruppc herauslöst und sie gesammelt 
(und vermehrt, ebenso wie verändert) in einer neuen Gruppen¬ 
form ausschließlich auf die Kinder wirken läßt. Vergleichen 
wir den heutigen Zustand mit diesem ursprünglidien, dann 
können wir mit mehr Recht, als bei der Vergleichung einiger 
Jahrhunderte, von einer Tendenz zur Humanisierung sprechen. 
Freilich entspricht der Humanisierung der Mittel eine Streckung 
ihrer Wirkungsdauer. Die primitiven Völker setzen die 
Knaben ihren freilich sehr drastisdien Erziehungsmitteln nur 
wenige Wochen oder Monate aus, wir unseren, freilich viel 
humaneren Mitteln, (4 bis 20 Jahre. Daß wir aber audi nicht 
einen Augenblick lang stolz behaupten können, es seien die 
Sterne, bis zu denen wir cs gebracht, lassen wir uns darüber 
belehren, wie Ritterschlag, Deposition, Firmung, die Auf- 
nahmsgebräudic in die Gesellenverbändc der Innungen bis 
vor wenigen Jahrzehnten, Ja heute nodi gclcgentlidi völlig 
unhumanisierte Initiationsriten treu konservierten. 

Der Sinn des Initiationsritus ist aus den individuellen psy¬ 
chischen Abläufen nidit verständlich zu machen. Die Väter, 
die ihn ausüben, verstehen ihn selbst nicht, sie rationalisieren 
ihn ohne Prüfung der Realität. Sie sdiieben ihm Zwecke 
unter, wie sic ihnen einleuditen. Sie sagen, es handle sidi 


63 


um Proben der Standhaftigkeit, um Unterricht in Mut und 
Ausdauer, um dauernde Einprägung aller Sitten-, Kriegs-, 
Moral-, Geschleditsgesetze des Stammes und seiner Gott¬ 
heiten. Sie benehmen sich dabei ganz wie unsere Pädagogiker. 
Einen vorliegenden Brauch rechtfertigen sie, indem sie ihn 
nachträglich als Mittel, als einziges taugliches Mittel zu einem 
edlen Zweck hinstellen. Dieser Zweck hat aber das Mittel 
nicht erzeugt, sondern dessen Gründe sind dem Einzelnen 
und seiner Gesellsdiaft imbewußt. Was an ihm psychisch 
determiniert ist, so viel oder so wenig es sein mag, wirkt 
aus dem Unbewußten. Erst dessen Aufdeckung kann uns die 
Determinanten zeigen. Tötung der Knaben lautet der Im¬ 
perativ des Unbewußten. Die versammelten Väter erfüllen 
diesen Befehl nicht. Warum nicht? Wer hindert sie? Vielleicht 
haben sie Angst vor den Weibern. Es scheint so, denn sie 
schicken sie weg, halten sie gewaltsam fern und schrecken sie 
durch Brummer und Katschen. Doch die Gründe sind nicht 
sicher erkannt. Genug, sie töten die Knaben nicht, nicht alle 
wenigstens, und vir beruhigen uns bei der negativ teleologi¬ 
schen Formel: sonst wäre die Menschheit längst ausgestorben 
und de facto hat irgendein grausamer Gott sie bis heute an 
dieser für alle Beteiligten vielleicht gleich glücklidien Lösung 
gehindert. Sie töten also die Knaben nicht, sie wissen gar nicht, 
daß sie es wollen, aber der Initiationsritus ist ein einziger 
großer symbolischer Tötungs- und Neugeburtsakt. 

Was mag das Motiv dieses Tötungstriebes sein, der offenbar 
sehr intensiv ist, setzt er doch gewaltige soziale Energien in 
Bewegung und weiß sich hinter tausend Entstellungen und 
Abschwächungen doch geltend zu machen? Die Väter drohen 
dem künftigen Manne: so wird es, aber ohne Ermäßigung und 
Entstellung, ganz unsymbolisch und sehr real, dem Vater¬ 
mörder und Mutterschänder gehen. Der Inzest und der Vater¬ 
mord (oder der Mord im Clan überhaupt) wird durch diese 


64 




prophylaktische Talion unvergeßlich cingesdiärft, der Heran¬ 
wachsenden Generation und der erwachsenen zugleich, die, 
so scheint es, immer neuen Versuchungen ausgesetzt ist, 
die gewiß, als sie noch unerwadisen war, solche Versudiung 
kannte. So ist auch ein Stüde Selbstbestrafung unter den 
Motiven dieses ersten gesellschaftlichen Erziehungsaktes. Er 
entspringt dem Schuldgefühl, das die Menschheit erwarb, als 
sie durch jenen Vatermord in der Urliorde, die totemistisdie 
Ordnung, die erste Kulturgesellschaft begründete. Dieses Lr- 
verbrechen in Wiederholung zu verhindern, die eigene Ver- 
suditheit hiezu zu sühnen, Schuldgefühl zu stiften, zu sichern 
und zu betätigen, dient der Initiationsritus. So lehrt der 
wissenschaftliche Mythos des grollen Freud. 

Dieser letzte Satz war wiederum so überflüssig wie sdlädlidi. 
Zwar hat der Leser sdion längst bemerkt, daß die Gedanken¬ 
gänge dieses Buches von Freud beeinflußt sind, und das hat 
vermutlich sein Zutrauen zum Autor und dessen An¬ 
schauungen nidit vergrößert. Aber er konnte doch bis zu 
der eben getanen Bemerkung hoffen, er würde an seiner Stelle, 
nachdrücklidist betont, das ihm aus der heutigen Wissenschaft - 
lidien Literatur lieb und gewohnt gewordene Sätzchen finden: 
Wir stimmen mit Freud in diesem oder jenem Gedanken 
überein, ohne die maßlosen Übertreibungen dieses nicht 
ganz verdienstlosen Autors zu teilen. Nodi lieber vielleicht 
hätte der Leser sogar gelesen: . . . unbeschadet des ener¬ 
gischsten Protestes gegen die Ausschreitungen der Psycho¬ 
analyse. Er findet sich enttäuscht und sieht Freud unein¬ 
geschränkt anerkannt, sein Werk als Grundpfeiler für den 
Bau der Erziehungswissensdiaft vorbereitet. Dies wird viel¬ 
leicht gerade jene unangenehm berühren, die mit Zustimmung 
die parallele Bemerkung über Marx gelesen haben und 
richtig als des Verfassers Meinung gedeutet haben: das Werk 
von Karl Marx sei als Grundpfeiler einer künftigen neuen 


Bcrnfcid, Sisyphos 5 


65 



* 


Erziehungswissenschaft zu betraditen — was vermutlidi 
wieder den an Freud Interessierten ein starkes Mißfallen 
erregt haben dürfte. So wären wir in Gefahr, /.wischen zwei 
Grundpfeilern im Wasser oder im grundlosen Baugrund- 
sdüamtn zu ersticken, wenn wir uns nidbt entschließen, über 
beide Pfeiler die Brücke zu bauen, auf der sich eine bequeme 
Sitzgelegenheit mit weiter Aussicht über die ausgedehnte 
Landschaft der Erziehung wird einrichten lassen. Solche An¬ 
lage für den Sitz der Erziehungswissenschaft schwebt seit 
Herbart allen pädagogischen Baumeistern vor: über der Ethik 
und der Psychologie als Fundamenten errichten sie die all¬ 
gemeine Pädagogik. Was nun freilich recht unsichere Basen 
sind, gut genug, für ein Nachmittagsschläfchen eine Hänge¬ 
matte dran zu hängen, aber überaus gefährlich und un¬ 
bequem schwankend als dauernde Wohnstätte. Denn die 
Ethik, was brauchte es vieler Worte, um sie als höchst unsoliden 
Untergrund zu erweisen? Und die Psychologie, was war sie 
vor Freud, was ist sie außerhalb des Freudsdien Werkes 
heute nodi anderes als zügellose Spekulation, eitle Projektion 
und Verallgemeinerung einer vom Unbewußten geleiteten 
und abgelcnkten Selbstbetrachtung außerordentlich kom¬ 
plizierter, ungewöhnlich nachdenklicher, überempfindlich 
selbstversonnener-diese Werte seien zugestanden -Schreib- 
tisdimen sehen, deren äußeres Leben oder innere psychische 
Struktur die Akzente von den wesentlich wichtigen seelischen 
Erscheinungen auf interessante, aber sekundäre Phänomene 
verschiebt? Was war sie mehr als oberflächliche, scheinbar 
exakte Forschung an Sinnesempfindung, Assoziation und 
Denken? Diese Psychologie durch die Lehre Freuds zu er¬ 
setzen, die Entwicklung, Trieb und Charakter ins Zentrum 
ihrer Betrachtung stellt, heißt der Erziehungswissenschaft 
überhaupt erst eine Grundlage geben. Sie wird breit und 
solid für jedes wünschenswerte Gewicht und die schwindelndste 


66 



Höhe des künftigen Baues sein, wenn statt der Ethik die 
Sozialwissenschaft, und zwar in ihrer härtesten und leben¬ 
digsten Form, der Marxsdien, die Psydiologie, in ihrer tiefsten 
und lebendigsten Form, “ der Freudsdien, ergänzen wird, 
über die Motive für die Wahl gerade dieser beiden Forsdier 
zu Sdiutzpatronen der neuen Erziehungswissensdiaft wird 
noch einiges zu sagen sein. Jetzt genüge dieser Exkurs, und 
wir kehren zu den merkwürdigen Erziehungstatsachen des 
Initiationsritus und der Kindertötung zurück. 

Audi außerhalb der Initiationsriten werden Kinder institutiv, 
als gesell sdiaftlidie Einrichtung getötet. Unserem Jahrhundert 
scheint das befremdlich, abstoßend, unglaubwürdig. Und doch 
ließe sidi ein stattlicher Band mit knappester Darstellung der 
Bräuche füllen, die direkt den Kindermord beabsiditigen und 
organisierte Bestandteile der Gesellschaft sind, Erziehungs¬ 
einrichtungen sozusagen der betreffenden Gesellsdiaft, un¬ 
zweideutige Reaktionen auf die Entwicklungstatsache. Idi 
spreche nicht von den Lust-, ltoheits-, Affektakten, die 
unsere Zeit wie manche, aber gewiß nidit jede, zum guten 
Feil den Verbredicn zuredinet und als solche ahndet, denen 
aber so im Lauf der Jahrhunderte ein gigantisches Heer von 
Kindern-zum Opfer gefallen ist; sie sind Individualakte, die 
nicht in diesem Zusammenhang zu erörtern sind. Eher wäre 
an Taten zu denken, wie die des Erzvaters Abraham war, 
der, aus Furcht oder Liehe, was bei gottesfürditigen Leuten 
nie klar zu entsdieiden ist, sich bereit findet, seinen Sohn 
zu opfern und sidi bis heute der Sanktion der Menschheit 
erfreut, die nach wie vor höhere Zwecke kennt, denen un¬ 
bedenklich das Leben des Kindes zu weihen, ja zu opfern 
wäre, wobei es dann reichlich Gesdimackssadic ist, ob Ehr- 
furdit vor Colt dieser Zweck ist oder die politische Absicht 
eines Herodes, die in ungezählten Gemälden unsterblichen 
Ruhm gefunden hat, an dem ein frommer Madonnenmaler 


5 * 


67 



allein elf mal durch Meisterwerke der Malerei und Grausam¬ 
keit mitgewirkt hat, oder die Erpressungstaktik des bösen 
Jehova für sein so gänzlich vergeblich aus der ägyptischen 
Knechtsdiaft geführtes Volk Israel - indem die Tat nicht als 
Verbrechen gewertet wird, zeigt sich die Bereitschaft der 
Menschheit, und wäre es unter Bedingungen, die Kinder¬ 
tötung aus der Sphäre des individuellen Aktes zu heben. 
Nicht einmal von Gesellsdiaftskonstruktionen hätten wir hier 
aufzählend Gebrauch zu machen, die die Kinder bis zur letzten 
Konsequenz dem individualpsychologischen Ablauf des Affektes 
eines einzelnen Erwachsenen freigeben, wie das römische 
Redit der väterlichen Gewalt. Zu schweigen davon, daß unsere 
Zivilisation nicht die einzige ist, die zwar moralisierend und 
predigend, aber doch schweigend die Kinderhekatomben er¬ 
trägt, die als unbeabsichtigte, aber eben mitgewollte, weil 
geduldete, Folgen anderen gesellschaftlichen Einrichtungen 
und Auseinandersetzungen entspringen, sie seien nun Kriege 
oder Fabrikstod, nur daß die europäische Menschheit, vom 
dreißigjährigen Kriege befreit, als Symbolum dieser Befreiung, 
als Denkstein für die gemordeten Kinder die Stedtenreiter- 
klippc prägte, während man im Krieg unseres Jahrhunderts 
die verstümmelte Kinderleiche hüben wie drüben als gern 
geglaubte Reklame für Kriegsanleihe sah. All das und besser 
vielleicht noch als das beweist uns eines Lesers Gefühl, daß 
idi hier aus der Rolle falle, meine Skepsis in Predigt und 
Sentimentalität verwandle, daß heute und immer die Tötung 
von Kindern als gesellschaftlich zugelassene Erscheinung be¬ 
stand und daß sie von einer Tötungstendenz im Unbewußten 
des Einzelnen und seiner Gesellschaft erzeugt oder getragen 
wird; es sei denn, wir belasten Gott mit der Verantwortung 
für diese und die früheren Welten. 

Wir werden nidit geneigt sein, die.se ganze Fülle aus dem 
Schuldgefühl der Männer, wie wir kurz für den komplizierten 

68 





Annahmenkomplex Freuds, den wir oben erwähnten, sagen 
wollen, abzuleiten, restlos aus ihm zu erklären. Es würde 
uns besser gefallen, einen allgemeinen Trieb, eine für die 
männliche Psyche bezeichnende Verhaltungsweise anzunehmen, 
deren Urbild Vater Kronos wäre, der seine Söhne verzehrt. 

Es ließe sich über diese Möglichkeit wohl reden, ist es doch 
auch bei vielen Säugetieren sonst der Brauch, daß der Vater 
den Wurf nicht anders zu schätzen weiß, denn als mühelos 
zu erwerbenden Zuwachs von vermutlich sehr wohlsdun ecken¬ 
dem Fleisch in seinem Jagdrevier, das er gern frißt, wenn 
ihn nicht die Mutter, gelegentlich in hartem Kampfe, daran 
hindert. Die Tatsache braucht uns nicht zu stören, daß diese 
männliche Urreaktion auf die Entwicklungstatsache bei nidtt 
wenigen Tieren an weiblichen Körperbau gebunden erscheint. 
Die neueste Biologie zeigt fortschreitend immer deutlicher, 
daß weiblich und männlich Tendenzen sind, die sich gelegent- 
lidi an den entgegengesetzten Genitalorganbau knüpfen, 
und daß sie ganz allgemein bloß in gewissen Misdiungs- 
relationen sich verwirklichen. Heißen wir die gedachte Ur¬ 
reaktion männlich, so kann damit nicht gesagt sein wollen, 
sie fehle nicht gelegentlich einem Manne, und sie käme nicht 
gelegentlich einer Frau zu, sondern wir halten damit nur 
den Eindruck fest, daß wir eher bei Männern als bei Frauen 
sie zu finden erwarten, und daß gewiß dort, wo priiniti\e 
Ansätze zu Einrichtungen in der Gesellsdiaft im Sinne diesei 
Urreaktion vorhanden sind, wir diese von Männergruppen 
getragen sehen. 

Von einer männlidien Urreaktion zu sprechen hat aber nur 
dann einen Sinn, wenn es gelingt, ihr eine weibliche Reaktion 
gegenüberzustellen. Diese Forderung setzt uns nicht in Ver¬ 
legenheit. Sie ist durdi die Maßnahmen in der Paargruppe 
vor dem Initiationsritus cleutlidi hindurch spürbar. Formel¬ 
haft klar wird sie beim Studium der primitiven Säuglings- 

69 


1 








pilegeformen. Eine von diesen, gewiß die älteste und ur- 
sprünglidiste, zeidinet sidi durdi eine Reihe von Merkmalen 
aus: das Neugeborene, und ähnlidi der Säugling, wird warm 
gehalten durdi Bad, Hüllen und Aufenthaltsort; es wird vor 
Lidit, Geräusdi und den mannigfaltigen Reizen der Welt, 
die es in seinem wohl verborgenen Sdilafraum als Fötus nicht 
erreidien konnten und denen es durdi die Geburt plötzlich 
schutzlos preisgegeben wurde, sorgfältig behütet; es liegt in 
seiner natürlidien Schlaflage, der embryonalen, im feucht- 
warmen Dunstkreis in gedeckter Wiege, einem veritabeln 
künstlichen Mutterleib, oder eng an die Mutter gepreßt in 
deren Bett, oder selbst tagsüber unmittelbar an ihrem Leib, 
mit dem Tragband vor ihre Brust, an ihre Hüfte geschnallt, 
oder im Tragsadc an ihren Rücken gehängt; es befindet sich 
in sanfter rhythmischer Schaukelbewegung, gewiegt oder den 
Rhythmus der mütterlichen Körperbewegungen mitschwingend, 
so wie es in utero in bequemer Hängematte hin und her 
pendelte, sanft im flüssigen Medium gesdiaukelt. 

Es ist, als wäre die Mutter von dem Bestreben geleitet, die 
große Trennung, die die Geburt zwischen sie und das Kind 
legte, rückgängig zu machen, das Kind sich möglichst körpernah 
zu halten, es zärtlich warm zu schützen und es in jener 
kaum definierbaren Weise der mütterlichen Sorgfalt zu lieben, 
für die die Fötalsituation vielleicht mehr als ein bloßes 
biologisdies Analogon ist. Sie ist der polare Gegensatz zur 
männlichen Reaktion, die sich bis zur bloßen Tendenz ab- 
schwädit, das Kind von der Mutter Körper fern zu halten. 
In der Säuglingspflege, die sich vom oben gezeichneten Ur¬ 
bild entfernt, - und die meisten Völker haben gewisse Züge 
sold:er Entfernung im realen Bild ihrer Einriditungen, so 
daß das Primitive bloß Ausgangspunkt und ideale Norm ist, — 
lassen sich mannigfaltige Grade der Mischung weiblicher 
Bräuche mit männlichen vermuten. 


70 



Der erste Sdrritt des Kindes ist der eigentl.die Wende¬ 
nunkt der wciblidten Briludie; merkwürdig genug, daß er 
ungefähr in die Zeit fallt, in der die Geburt des nad,geborenen 
Geschwister» sidr vorbereitet. Nun muß die Körperfernc bis 
zu einem gewissen Maß von der Mutter ertragen werden, 
die primitive Reaktion wird zur Liebe, die hier wie mmer 
■' der Sehnsucht besteht, das Geliebte möglichst kürpemah 
zu bringen, sich mit ihm möglichst innig körperlich zu >er- 
bbiden.^Die Mutter Hebt ihr Kind wie ein Stüde ihres eigenen 
Körpers, das zeitweilig von ihrem übrigen Körpc durd. « 

Stück Raum getrennt ist, aber natürhdt nur zei.wdRg^ge 
trennt sein darf, soll nicht die Liebe in heftigsten lrennungs 

^I)ie'mtinnHdie^und die weibliche Urreaktion sind kollektive 
Phänomene. Sie gehören aber audr als individuelles Besitztum 
den tiefsten, normalerweise unbewußten, Schlditen der . nzc 
Persönlichkeit an. Und wirken von dort aus als unbewußte 

individualpsydiologischc Konstanten auf die u tnHivT 

zärtlichen oder aggressiven Typus, die wir früher a s 
duclle psychologische Konstanten bezeichne«® und nunmeh 
als die bewußten von diesen tieferen, den unbewußten, unter- 

Verdrängt oder ln den Charakter eingebaut, d.e weibliche 
Reaktion wird die zärtlichen Abläufe intensivieren und die 
aggressiven ermäßigen, während die männliche Reaktion e 
zärtlichen hemmen und die aggressiven verstärken wird. 
Wobei die komplizierteren Entwidclungsmöglidikeiten nt lt 
zu vergessen sind, daß die verdrängte Reaktionsweise kom- 
pensativ die entgegengesetzte verstärken und auch sonst all 
jene paradoxen Verhaltungswelsen erzeugen kann, die 1 reud 
uns lehrte aus den Mechanismen der Verdrängung zu ver¬ 
stehen. Audi der Komplikation sei wiederholend gedacht, 
daß ein weiblicher Körper die männliche, ein männlicher 

71 



Körper die weiblidie Reaktionsweise bergen kann, daß beide 
im selben Individuum in sehr mannigfaltigen Mischungen 
und allerhand Gleidigewichtszuständen wirksam sein können. 
Denn all dies rührt nicht an die grundsätzlidie Behauptung: 
Das erzieherische Verhalten des einzelnen Erwachsenen, seine 
allgemeinen Prinzipien sowohl wie jede konkrete Tat, ist von 
individualpsychologischen Konstanten determiniert: den indi¬ 
viduellen Ablaufsformen seiner Affekte und der Struktur der 
Urreaktion in seinem Unbewußten oder seinem Idi. Die reine 
Paargruppe ist die günstigste soziale Gegebenheit für das 
volle Sidi-Aus wirken dieser Konstanten in jeder einzelnen 
Erziehungshandlung. 

Es ist, leider, nicht meine Aufgabe, in diesem Buche die 
Psychologie der Erziehung zu schreiben, und auch deren 
Urgeschichte, die mit ihrer Psychologie ungefähr zusammen¬ 
fallen dürfte, ist nicht mein Thema; ich muß die Frage, 
derentwegen ich mich so tief ins Gestrüpp gänzlich uner¬ 
forschter Wissensgebiete hineingeschlagen habe, nicht aus 
dem Auge verlieren. Die Funktion der Erziehung steht zur 
Erörterung. Darum, nicht weil das beigebrachte Material 
reichlich genug oder die Hypothesen einleuchtend genug sind, 
versuchen wir eine vorläufige Formulierung. Wir sahen Ur- 
einriditungen der Erziehung aus psychologischen Gründen 
entstehen - Liebe der Weiber zu ihrer Frucht, Vemiditungs- 
trieb und Vergeltungsfurcht der Männer - wir sehen diese 
psychologischen Motive noch heute wirksam, wenn auch 
modifiziert und kompliziert. Wir haben die psychologischen 
Determinanten gewisser Erziehungseinrichtungen erfaßt, die 
Urreaktionen der Individuen auf die Entwiddungstatsache 
iormuliert. Was nun gefragt werden muß, ist die soziale 
folge dieser Reaktionen: ihre Funktion. Diese ist unschwer 
für die weiblidie Reaktion zu finden; sie sichert den physischen 
Bestand, die Fortpflanzung der Gesellschaft. Diese sichernde 

72 


JS 


•I, 



Funktion erfüllte sie bereits, wenn es ihr gelang, die mann- 
lidie Reaktion ihrer äußersten, ihrer primitivsten Konsequenz 
zu berauben. Sie brautht keiner Verankerung in eigenen 
weiblich gedachten Institutionen. Sie verbindet sich in kom¬ 
plizierten Gesellschaftsformen mit den wirtschaftlichen Interessen 
der Männer. Sie ist garantiert durch die bisexuelle Psyche 
des Menschen, die weibliche Tendenzen in jeder Mannesseele 
mitreagieren läßt, die wenigstens dafür sorgt, daß keine 
Männergruppe ohne tüchtigen Weiber Verstandesanteil besteht. 
Sie ist vielleicht in der Angst der Männer vor den Frauen, 
in der Abhängigkeit der Männer von den Frauen als ihren 
Liebesobjekten zu tiefst verankert. Sie ist vielleidit das 
Resultat einer menschlichen Urordnung, in der das Weibchen, 
die Mutter, durdi Körperkraft und Inzestgewährung die 
Männdien - ihre Söhne samt und sonders - so energisch im 
Zaum zu halten wußte, daß nadi Jahrtausenden nodi die 
griechischen Heroen vor den Amazonen zitterten und der 
sorgfältige Forscher im XJX. Jahrhundert noch manchen 
nadi wirkenden Zug des uralten Mutterrechts aufzuspüren 
glaubt. Vielleicht ist aber diese Urzeit nur eine komplizierte 
Zwischenepodie. So viel aber ist gewiß uncl darf uns genügen: 
institutiv ist die weibliche Reaktion, soweit die Geschichte 
zurück- und vorwärtsreicht, für die Erziehung nidit gewesen. 
Wo sie ungemischt von männlichen Weisen ausgeübt wird, 
ist die Paargruppe ihre prinzipielle Institution, Mutter und Kind. 

Was ist aber die Funktion der männlichen Reaktion? Das 
wäre nicht leicht zu sagen, wenn ich die Eindrücke und 
Phantasien, die mir das Studium der Büdier über die lat- 
sadien erst erweckte und dann fortzuspinnen erlaubte, so 
darstellen müßte, als hätte ich sie aus den Tatsachen 
gewonnen, als erlaubten diese keine andere Anschauung, als 
wären sie selbst Tatsachen. Welche bände- und bilderreiche 
Geschichte der Kindheit und Jugend müßte ich schreiben. 


73 


und der intelligente Leser würde ja dodi nur die Auszüge 
von fünf Zeilen bis fünf Seiten lesen, die der intelligente 
Verleger auf die Budischleife drucken oder in Literaturblättern 
verbreiten ließ. Bei so unwichtigen Themen, wie die Erziehung 
eben durch jene kleine Bibliothek erweislich ist, genügt doch, 
wenn Einer mehr als jene Zeilen und Seiten von ihrer Ge¬ 
schichte gelesen hat, eben der Autor dieser fünf Zeilen. 

Der freiere Ton dieses Buches erlaubt hier summarisdier 
zu verfahren, was hier darum keineswegs unwissenschaftlich 
ist, weil ich nichts anderes als Einfälle zu Tatsadien gebe, 
die Forschungen anregen, eigene vorbereiten wollen, nicht 
sich selbst aber als Tatsadien geben wollen. Übrigens nur 
solche Einfälle, die jedem Nichtpädagogen als selbstverständlidi 
erscheinen und nur dem Pädagogen erst eindringlich gemacht 
werden müssen. 

Eine Konstruktion, die nur als schematisierender Einfall 
gemeint ist, läßt am ehesten die Funktion cler männlichen 
Erziehung deutlich machen. Die ursprüngliche Erziehung 
dürfen wir uns wie die der Tiere vorstellen; sie ist eine rein 
weibliche; das zärtlich geschützte Junge, von der Mutter in 
Kürpernähe gehalten, wächst auf und entwickelt sich physisch 
und psychisch, indem es die große Rekapitulation der Art- 
gesdiichte, die mit der Zeugung ausgelüst wurde, über die 
Geburt hinaus fortsetzt. Das heißt, es reift heran; und die 
Erziehung sichert dieses in Form, Inhalt, Umfang und Ter¬ 
minen erbhaft vorausbestimmte Reifen. Wahrsdieinlich fördert 
die Erziehung auch diesen biopsychisdien Prozeß, vielleicht 
beeinflußt sie ihn auch. Die Frage ist unentscheidbar. Denn 
ganz entgegen der populären Ansicht ist es keineswegs aus¬ 
gemacht, daß z. B. das Sprechenlernen sich anders, als der 
Übergang vom Morula- ins Gastrulastadium der Embryonal- 
entwiddung, nämlich nicht erbbestimmt vollziehe. Der Einwand, 
ein isoliert auf wachsendes Kind schaffe keine Sprache, ist 

74 



etwa auf dem Niveau einer Argumentation, die behauptete, 
der Embryo lerne das Wadisen von seiner Mutter, denn aus 
ihrem Leib geschnitten, wachse er nidit weiter. Es ist etwas 
an diesem Einwand, aber nur etwas, und soviel ist auch an 
dem früheren. Nämlich daß die erbbestimmten Entwicklungs- 
richtungcn und Inhalte der Auslösungen, der Sidierungen, 
der beeinflussenden Faktoren bedürfen, um völlig wirksam 
zu werden. Für den Embryo sind sie zusammengefaßt in der 
Person der Mutter; für das Kind im Milieu, dessen Begriff 
aber weit genug gefaßt sein muß, um audi die geographisdie 
Breite, Klima und vielleicht den astronomischen Ort der Erde 
mit zu umfassen.' Das Kind reift in diesem Milieu als in 
einem neuen Mutterleib, wie cs vor der Geburt in dem 
Mutterleib als in seinem Milieu wuchs. So wenig wir wissen, 
welchen Einfluß „der Morgenwind an Mutters Haaren” auf 
den still wachsenden Fötus hat, so w'enig ahnen wir, ob 
Sirius, Mond und Sonne, die Tiefen des Erdinnem, die Fernen 
der Erdoberfläche auf den munter heranwadiscndcn Knaben 
wirken. Wir sind dieses Nidit wissen gewöhnt. Wir müssen 
uns aber gewöhnen, unser Nidit wissen cinzugcstehen, auch 
w r enn es sidi um die Zuordnung irgendeines Stückes des 
näheren Mileus als Ursadie zu irgendeinem Stück der Reifung 
als seiner Wirkung handelt. Gewiß, das Sprechen wird gelernt, 
so nennen wir eine der möglidien Wirkungsweisen des 
Milieus, von wann an aber? Das Atmen und Mundbew egen, 
das Leuchten der Augen, die Mimik des Gesichts, die Panto- 
mimik des Körpers, sie sind gereift, wir wüßten nidit, durdi 
welches Stück des Milieus gefördert, durdi welches gehemmt; 
aber audi das rhythmische Lallen, das bereits klingt wie Papa 
und Mama, ist nodi Reifung. Wir wissen nidit genau, w r ann 
und wo eins ins andere übergeht. Und wenn das unbezweifcl- 
barc Lernen beginnt bei Vokabular und Grammatik — audi 
da noch ist nidit alles unbezweifelbar, haben dodi die Ein- 


75 


jährigen aller Völker eine gemeinsame eigene Grammatik 
und fast noch die Zweijährigen ihre eigene - wer wollte 
entscheiden, welches Milieustück fehlen darf und welches 
unerläßlich ist für den gleichen Enderfolg? Dabei ist die 
Sprache kein völlig gutes Beispiel, denn sie ist ein teilweise 
intellektueller Prozeß und fraglich, wieviel davon in jener 
Urgesellschaft vorhanden war, die uns hier vorschwebt. Genug, 
es wächst das Kind heran und wird so, wie die anderen 
seiner Horde sind, es wird so, wenn es unter ihnen lebt, 
und hat die große Rekapitulation beendet, es ist erwachsen. 
Es ist vom einzelligen Eidien zum Bürger seiner Gesellschaft 
up to day geworden. Es gibt in dieser primitiven Gesellschaft 
noch keinen Geschichtsunterricht, weil es für sie nodi keine 
Geschichte, keine Erinnerung an die Ahnen gibt. Aber viel¬ 
leicht gibt es in ihr schon Gebilde, von den Ahnen geschaffen 
und bei den Modernen in Gebrauch, die nicht in der Art 
fortgepflanzt werden können, die sonst bei Tieren für 
die Überlieferung neuer Erfindungen üblich ist, sie einfach 
in Plasma herzustellen: die Horde verwendet Werkzeug; 
eine praktische Arm Verlängerung aus Holz, einen über¬ 
aus verwendbaren Reservebauch aus Ton. Dann ist - im 
Prinzip - der letzte Abschnitt der Reifung des Jungen dem 
Erwerb dieser letzten Neuerung des Organischen auf Erden 
gewidmet; während die ersten Abschnitte den urältesten 
Erwerbungen galten: der Lösung des schwierigen Problems, 
mit dem im Grunde unsere soziale Frage bereits, mitgelöst 
war, wie zwei Zellindividuen, statt einander aufzufressen, 
trotz ihrer Individuation beisammen bleiben könnten, zu 
gemeinsamem Nutzen und gemeinsamer vermehrter Sicherung, 
wenn auch bei geminderter Bequemlichkeit, so doch auch bei 
gemindertem Bequemlichkeitsrisiko. 

Diese grandiose Rekapitulation ist der Wissenschaft ein 
Rätsel. Die organische Rekapitulation ist der Schmerz des 

76 





neugierigen Biologen. Sie sollte es doppelt für den Pädagogen 
sein. Was immer sie herbeiführt, was immer die Technik 
dieses gigantischen Wiederholungszwanges ist, ihr Resultat 
ist die ideale Erfüllung einer Plasmadidaktik, denn der Zög¬ 
ling, der übrigens still und bescheiden, wie nur Embryonen 
eben sind, - aber vielleidit ist das der Grund der präditigen 
Erfolge, und die Landsdiulmeister, die Disziplin verlangen, haben 
nicht so unrecht — lernt in neun Monaten den ungeheuren und 
gewiß langweiligen Lehrstoff der Jahrhunderttausende so vor- 
trefflidi, daß er ihn sogar selbst im Schlafe kann. Über den 
Weg der Kulturrekapitulation, der Hodischule sozusagen, die 
der Fötus, durch die merkwürdige und vermutlich peinliche 
Prüfung Geburt reif erklärt, zu beziehen hat, wissen wir 
durdi Freud ein wichtiges Faktum. Sie geschieht, indem sich 
das Kind mit seinem Milieu identifiziert. Durch Nachahmung, 
konnte man früher sagen, solange man von den tiefen, un¬ 
bewußten Vorgängen nidits wissen wollte. Das Kind iden¬ 
tifiziert sich mit der Mutter und allem Lebenden seiner 
Umwelt (mit seinem Milieu), soweit es sie lieht. Die weibliche 
Erziehung sorgt für den Eintritt solcher identifizierender 
Liebe, indem sie Liebe spendet. Eine Werbemethode, die 
beim Säugling nie versagt, und einmal an ihr Ziel gelangt, 
cs beim Kinde unfehlbar festzuhalten vermag. Die organische 
Rekapitulation, ergänzt und fortgesetzt durch libidinöse Iden¬ 
tifikation, madit aus der Eizelle in neun Monaten plus 
et liehen Kinderjahren den Bürger up to day einer Tier- 
gesellschafl und jener primitiven Mensdiengruppen. 

Eine freundliche Pessimistin höre ich jetzt sagen, ja wozu 
haben wir dann Sdiulen? Laßt sie uns zerstören, ersetzen 
durdi diese präditige, einleuchtende Methode der organischen 
Rekapitulation und libidinösen Identifikation! - Bravo! Er 
war wirklidi richtig ausgcsprodien, dieser Fremd wörter- 
Vierzadt! Geehrtes Fräulein, Sie sind zu optimistisch, Sie 


77 



müssen ganz durchhalten mit dem Pessimismus und einsehen, 
da« das leider, leider - in dieser Exklamation sind wir 
wieder einige Freunde - nicht melir möglich ist, seit jene 
gräßliche Geschichte in der Menschheitsgeschichte vorgefallen 
ist, die Sie besser in Freuds „Totem und Tabu“ nachlesen. 
Sie werden die Geschichte zwar unglaubwürdig finden. Idi 
glaube sie und bin überzeugt, daß die mensdilidie Gesell- 
sdiaft durdi sie jene Komplikation erfahren hat, die leider, 
leider ein Schulwesen und eine Erziehung, also eine künst¬ 
liche, institutionelle Methode anstatt jener natürlidien Weisen 
notig macht. V enn auch nicht so schlecht erzogen werden 
muß, wie Sie in Ihrem Kindergarten tun, da bin ich Optimist. 

Die Voraussetzung der „natürlichen Methode” ist nämlich 
erstens: Daß der „Lehrstoff” durch Identifikation aneigenbar 
sei. Das ist möglich bei Verhaltens weisen, nicht aber bei 
Bewußtseinsinhalten. Kenntnisse, diese mögen nun in Er¬ 
innerungen oder in Begriffen den Milieupersonen angehören, 
sind vom Kind durch keine libidinöse Identifikation erwerbbar! 
Diese folgt den Wahrnehmungen und kann daher die Worte, 
den Niederschlag solcher Kenntnisse, da sie hör- und sichtbar 
smd, die Handlungen, die Konsequenzen aus jenen Kennt¬ 
nissen, da sie wahrnehmbar sind, nicht aber diese selbst auf¬ 
nehmen und behalten. Die Kenntnisse, soffen sie nicht mit 
der siebesitzenden Generation aussterben, müssen in einem 
besonderen Prozeß, dem Unterricht, übermittelt, durch eine 
spezifische Arbeitsleistung, das Lernen, erworben werden. 
Wir müssen nidit annehmen, daß Tiergeseffschaften und die 
Menschheit in ihrem Urzustand solche Kenntnisse besaßen. 
Die Altersklassengesei 1 schaft jedoch kennt bereits den Unter¬ 
richt, und zwar als kollektive Institution. So werden die 
Knaben im Hinterlande von Liberia etwa im zehnten Lebens¬ 
jahre gewaltsam nadi dem Zauberwald, dem Grigribusdi 
entführt, wo sie einige Monate in Abgeschiedenheit leben 


78 



und kollektiv Unterricht in Tanz, Waffenführung, Redits- 
Ielirc und den Sexualgeboten und -verboten erhalten. Dieser 
Unterricht wechselt in anmutiger Weise mit Tätowierung, 
Beschneidung und anderen grausamen und schmerzhaften 
Riten ab. Im Zauberbusch verbirgt sidi die erste Schule. Der 
Unfersdiied mag sehr beträchtlich, mag imponierend sein, 
der zwischen dieser Urschule und unseren heutigen ver¬ 
wickelten l nterrichtsinstitutioncn besteht. Es ist dennoch das 
gleiche Prinzip, die spezifisdie Organisation der Übermittlung 
von bestimmten Kenntnissen, die von der Gesellschaft für 
nötig gehalten weiden, von ihren Beauftragten unterrichtet, 
von den Kindern gelernt werden. Und ein Stück des uralten 
Sadismus, ein Schimmer jener Aggressionsorgie, in deren 
Dunstkreis die Sdiule erstmals erfunden wurde, verklärt sie 
noch heute, gehörte ihr ausnahmslos jederzeit, einmal in 
hellem Strahlen, einmal in dumpfem Glimmen, zu. So werden 
die Didaktiker hymnisch sagen. Idi sehe — avisuell, wie ich 
bin - kein Licht, nur dunkle Finsternis, aber das ist vielleidit 
nur mein eigenes Augensdiwarz, des Pessimisten seines. 
Abersehen wir auch sdiwarz, müssen wir clodi nicht ungerecht 
denken. Die Sdiule hat’s nicht leidit. Sie hat entgegen allen 
ererbten 1 rieben in den Kindern, entgegen ihren spontanen 
Wünschen und Interessen zu wirken; sie steht allemal, ihre 
Mittel seien humane oder brutale, NatUrgewalten gegenüber 
und vertritt dein Kinde gegenüber die Härte und Kom¬ 
pliziertheit der gesellschaftlichen Realität, die der Menschheit 
seit ihrem Sündenfall, er sei nun im Paradies oder in der 
UrHorde geschehen, aufgeladen ist. Sie nimmt den Platz der 
Engel ein, die vor der verschlossenen Paradiestür des ver¬ 
lorenen Urzustandes stehen, wachend, daß der alte Adam 
nie wieder zurückkehre, sondern mit Schweiß, Verzichten 
und Schuldgefühl vor diesen Toren sidi ein Ersatzparadies 
schaffe. Was ihm freilidi bisher nur mangelhaft gelang. Aber 


79 






daran sind gewiß die Engel nicht schuld, ob sie nun Schwerter 
oder Palmwedel in ihren Händen tragen. 

Die andere Voraussetzung für die natürliche Lernmethode 
ist weniger klar zu formulieren. Wer sie nicht von selbst 
versteht, wird sie frühestens im letzten Kapitel begreifen. 
Das heran wachsende Kind, durch unser Fremdwörter-Vierzack 
in eine bestimmte Reifungsbahn gedrängt, muß zugleich mit 
der Beendigung der Rekapitulation den psychischen Zustand 
erreicht haben, der es zu einem in seiner Gesellschaft un¬ 
gefährdeten, seine Gesellschaft nicht gefährdenden Mitbürger 
macht. Die sonst so vortreffliche Plasma-Didaktik hat einen 
beträchtlichen Fehler, sie ist stark konservativ. Zu Lehrstoff¬ 
neuerungen ist sie nicht zu haben. Sie ist schlimmer wie 
unsere Pompe funebre, die heute noch die Kleider von 1750 
tragen. Die Lachse haben nach ihrem Lehrplan heute noch 
die Geographie von vor Jahrtausenden zu lernen und 
schwimmen zur Laichzeit aus dem Meer viele Kilometer weit 
die Flüsse hinauf, um an Jenen Stellen zu laidien, wo 
seinerzeit, in vergangenen geologischen Epochen, die Mün¬ 
dung des Flusses behagliche Bedingungen für dieses wichtige 
Geschäft bot. Ihnen müssen unsere Universitäten bolschewistisch 
erscheinen, die 200 Jahre nachdem der selige Thomasius seine 
Vorlesungen deutsch zu halten wagte, nodi nicht wagen, 
Latein als ihre Voraussetzung aufzugeben. Die letzten paar 
Jahrtausende, das ist die bittere Erziehungsnuß. Sind in 
ihnen Revolutionen vorgefallen, die neue Bahnen für Seelen- 
und Triebentwicklung vorzeichnen, so bleiben sie im Rekapitu¬ 
lationslehrplan völlig unberücksichtigt, er tradiert noch immer 
Latein, die Gesellschaft aber — wer kann ihr dies menschliche 
Verhalten verargen — sie ist doch gerade auf das Esperanto 
so stolz, das ihr die Revolutionen ihrer letzten Jahrtausende 
brachten. Und sie besteht darauf, daß es jedem geläufig 
werde, ehe er als Erwachsener gilt. Und seit dem Sündenfall 


«0 



ist diese Esperanto frage tausendfach kompliziert, immer aufs 
neue aktuell geblieben. Erfinderisch in ihren Methoden hat 
sidi die Mensdiheit hier nidit erwiesen. Wir werden davon 
noch sprechen. Sie hat gleich anfangs eine Idee gehabt und 
ist bei ihr geblieben: die männliche Ürrcaktion zur Hilfs- 
und Ergänzungsinstitution auszubauen. Das ist ihre Funktion 
geworden. 

Konstruieren wir weiter, dies klar zu machen. Die voraus¬ 
gesetzte ursprüngliche Entwicklung, die bei den Tieren in 
gewissem Sinn rein erhalten zu sein pflegt, zeigt drei Wende¬ 
punkte im Beziehungsleben des Kindes, des Knaben, ins¬ 
besondere, zu seiner Mutter. Die Geburt wendet es von 
innen nach außen; aber es bleibt in Körpernähe der Mutter; 
der erste Schritt wendet es vom Körper der Mutter weg; 
er bleibt Ziel seiner Ruhewünsdie, zu ihm kehrt es zurück, 
wenn es an Welt und Spielkameraden genug genossen, 
genug Enttäuschung erfahren hat, aber er ist nidit mehr das 
einzige, sondern nur mehr das letzte Ziel seiner Strebungen; 
erwadisen — gesdhlechtsreif geworden, und das allein heißt 
dem primitiven Zustand erwadisen - wendet sich das Kind 
wieder zur Mutter, aber nicht als ruhesuchendes Kind, 
sondern als Lustsuchender, nach Bemäditigung strebender 
Mann; gegen die Mutter wendet es sich, im Verglcidi zu 
seiner früheren Verhaltungsweise. Sie ist nicht mehr Mutter, 
sondern sic ist ein Weib wie Jedes andere, Trägerin eines 
lustspendenden Organs. 

Zu den Urrevolutionen, die an der Grenze zwischen der 
Urmcnsdiheit und der menschlichen — wenn auch nodi 
primitiven - Gesellschaft stehen, gehört das Verbot dieser 
letzten Wendung. Die Erwachsenheit soll nicht mehr in der 
synthetischen Rüde Wendung münden, sondern soll die Anti¬ 
thesis des zweiten Schrittes vollenden; sie soll in einer 
völligen und ewigen Abwendung von der Mutter bestehen. 


Bernfcld, Sisyphos 6 


Si 




Alle Weiber mögen dem Manne gehören, sie stehen ihm zur 
Wahl, er darf um sie kämpfen, er steht ihnen zur Wahl; 
nur diese eine nicht. Sie ist hors concours gestellt, zwischen 
ihr und ihm ist die Inzestschranke unerbittlich niedergefallen 
und treibt die Triebe in sonderbare Umwege, die in späteren 
komplizierten Konstruktionen zu tödlichen Labyrinthen sich 
verschlingen. Irgendwann, irgendwie ist dies, die Entstehung 
des Inzestverbotes, in der Urhorde eingetreten, in irgend¬ 
einer dunklen Verbindung mit dem anderen Ereignis, jenem 
Vatermord. Wir wissen darüber nichts und danken Gott, 
daß wir nicht Ethnologen sind, die das unentwirrbare Bündel 
von Problemen zu lösen haben, das die innere Chronologie 
all jener die Menschheit konstituierenden Umwälzungen auf¬ 
gibt Uns darf genügen, daß unter den zahllosen Folgen, die 
dieser Tat und dieser Neuerung entsprangen, auch die der 
männlichen Urreaktion entsprechende Erziehung Ist Wenig 
verwunderlich, wo doch kein Zug in keiner der post- 
inzestualen Gesellschaften von damals bis heute der unmittel¬ 
baren Nachwirkung jener Urereignisse entbehrt, die zwar 
uralt, aber dennoch aktuell wie nur eines, lebendig wie keines 
seither sind. 

* 

Den Inzest zu verhindern, nahmen die Männer den Müttern 
ihre Knaben - und wäre es gewaltsam - fort; in dem Zeit¬ 
punkt ihres Erwadisenwerdens den Mord zu verhindern, 
unterwarfen sie die Getrennten dem Initiationsritus. Durch 
die Inzestscheu und das Schuldgefühl war die Gesellschaft 
und mit ihr die Einzelpsyche um Elemente bereichert - oder 
belastet — worden, die der organischen Rekapitulation nicht 
zugänglich waren. Denn sie waren ein Neues, neu für das 
Organische (und Urpsychische) auch noch nach Generationen 
langer Wiederholung. Sie sind ihm neu - vielleicht — heute 
noch nach hunderttausendmaliger Wiederholung in hundert¬ 
tausend Generationen seit der erstmaligen Erfindung. Bei 


82 



allem Respekt vor der Gewalt des Konservativen im Leben¬ 
digen, ich fühle midi nicht geneigt, ihr diese Resistenzfähig¬ 
keit gegenüber einem soldi eindringlidien Anpassungszwang, 
wie ihn diese Wiederholungskette darstellt, zuzumuten; und 
nehme gerne an, daß diese Neuerungen, Inzestscheu und 
Schuldgefühl, ein völlig ungenießbares Kapitel sind, das die 
Gesellschaft dem Plasmalehrplan cinverleiben wollte. Jene 
menschheits-, gesellsdiaftsbildenden Neuerungen sind wahr¬ 
haftig ungeheuere Erfindungen von absoluter Originalität. Wir 
haben uns an sie gewöhnt, sie scheinen uns selbstverständlich, 
aber nur so lange wir mit ihnen weder denkend noch erlebend 
zu tun haben. Wir müssen durdi diese problemverschleiernde 
Gewöhnung hindurchsehen und erkennen, daß beide im 
ganzen Reidi des Organisdien und Psydiisdien kein Ana¬ 
logon haben. Sie sind wirklidie Überleistungcn, durch die sidi 
das Biopsydusche über sidi selbst erhebt, so wie sie Freud als 
Über-Idi dem Es und seinem Ich übergebaut vorstellt. Werk¬ 
zeug, Sprache, Denken, Gesellschaft, alles Erfindungen von 
äußerster Bedeutung, sind doch an keiner Stelle ihrer Ent¬ 
wicklung prinzipielle Neuerungen, nachdem einmal die großen 
biopsychischen Urcrfindungen gemacht waren, als welche z. B. 
die Differenzierung des Lebendigen aus dem Abiotischen, 
die Gründung des Zellenverbandes und die organische 
Arbeitsteilung erfunden waren. Inzestsdieu und Schuldgefühl 
sind Gebilde von solch prinzipieller Neuheit, wie Jene Pro¬ 
zesse zu Beginn der Entwicklung des Lebenden. Ich will das 
nicht mit Sicherheit behaupten, aber es gibt Gründe, die 
solche Möglidikeit sichern, und diese Betrachtung hat ctlidie 
verlockende Schönheiten und Vorzüge. Nur eine naheliegende 
Folgerung möchte ich ab wehren, einschränken wenigstens. 
Die Menschwerdung wäre demnach ein unvergleichlich wich¬ 
tiges Faktum in der Geschichte des Lebens - auf Erden 
wenigstens - und wie fügt sich dies einer pessimistisdien 


6 * 


83 


Weltbetrachtung? Idi meine, diese These hat mit ihr wenig 
zu tun; sie bezeichnet ein Faktum. Die Weltanschauung tritt 
erst bei der Beurteilung der Zukunft in Frage. Und für sie 
wird der Pessimist geneigt sein, eine sehr zweifelhafte 
günstige Entwicklung nicht allzusehr zu überschätzen. Er 
wird finden, daß die Geschichte jener Neuerungen - was 
man Menschheitsgeschichte nennt — keine glückliche war. Im 
wesentlichen — mindestens - hat die Natur des Menschen 
sich erfolgreich dieser Neuerung widersetzt. Nur durch ent¬ 
sprechende gesellschaftliche Einrichtungen ist ein gewisses 
Gleidigewicht zwischen den Forderungen des Über-lchs und 
dem gewohnten Ablauf der Triebe - seit uralten Zeiten 
gewohnt — hergestellt. Der Menschendurchschnitt steht unter 
dem Normalniveau der Forderungen, und eine sehr beträcht¬ 
liche Zahl von Einzelnen bleibt hinter diesem Durchschnitt 
noch als krank und verbrecherisch zurück. Diese gesellschaft¬ 
lichen Einrichtungen selbst aber erfreuen sich keineswegs 
einer zukunftsverleihenden Stabilität. Die Folgen jener Neue¬ 
rungen im einzelnen sind fragwürdig genug, und wenige von 
ihnen versprechen ein irgend nennenswert dauerndes Faktum 
zu sein. Im ganzen ist keineswegs immöglich, daß die 
Menschheit (die Gesellschaft der Tiere mit Inzestsdieu und 
Schuldgefühl) an ihren Konflikten zugrunde geht, so wie 
Seifenblasen zerplatzen, bald oder später, was tut’s? Dann 
wird, statt der unvergleichlichen Neuerung an der Schwelle 
einer neuen Ära des Bios, nichts als bestrafte Ruhmredigkeit 
der Menschheit und ihrer Neuerung Schicksal und Name 
sein. Aber ich möchte nicht verheimlichen, daß es doch spär¬ 
lich, lächerlich spärlich Fakta gibt, die eine freundlichere 
Prognose stützen, noch nicht sein, aber denkbar sein lassen. 
Da ich dieser vagen Möglichkeit eine breitere Darstellung 
und Erörterung an anderer Stelle widmen möchte, schalten 
wir die Weltanschauungsaffekte aus und erinnern uns, daß 

84 



wir von der Grenzensetzung der Macht der libidinösen Iden¬ 
tifikation ausgegangen sind. Wir fanden diese Grenze zunächst 
darin gegeben, daß die Identifikation, an die Wahrnehmung 
gebunden, nur das Verhalten der erwachsenen Menschen des 
Milieus wiederholen kann. 

Jetzt sehen wir deutlidi, daß sie auch dort nicht möglidi 
ist, wo sie die organische Rekapitulation nicht bloß zu 
fördern, zu hemmen und zu beeinflussen hätte, sondern wo 
ihr die Aufgabe gestellt wäre, eine der organisdien Rekapi¬ 
tulation strikt widersprechende Neuerung zu erreichen. Die 
Mutter ist in primitiven Zuständen das Objekt der Identifika¬ 
tion, wie soüte an ihr die Inzcstsdieu gelernt werden? Gibt 
sie dodi das Beispiel des Sexuallebens und erregt die Nadc- 
ahmung ihrer Kinder; und der Gatte der Mutter, ein zweit¬ 
rangiges, aber doch das männliche Identifikationsobjekt, weckt 
die Begierde eben zur verbotenen Mutter, denn daß er etwa 
seiner Mutter die geforderte Scheu entgegenbringt, kann die 
Kinder bestenfalls zur Großmutterinzestsdieu, aber nicht zur 
entscheidenden Mutterscheu bringen. Hier hilft kein Mittel 
als die Zerstörung der ursprünglidien Gesellschaftsform, die 
Zerschlagung der Mutter-Kind-Gruppe, die Überführung des 
Kindes vor seiner Mannbarwerdung in ein neues Milieu, das 
eine Änderung der Richtung der libidinösen Identifikation 
bewirkt; und die gewaltsame Verziditserzwingung auf die 
natürliche Triebbefriedigung durdi radikale Versagung, durch 
Angst, Strafe, Umbau der Affektkräfte und der Idistruktur 
durch erlernte Kenntnis, durch Magie und Mythos und neue, 
der früheren Struktur unbekannte, Lust. All dies leistet der 
Initiationsritus. Er ist vorbereitet in der Umformung der 
Gesellschaft in Männerbünde und Altersklassen, verankert 
in der männlichen Urreaktion gegenüber der Entwicklungs¬ 
tatsache: der Kindtötungstendenz. 

Nach all diesen Umwegen und Abschweifungen ergibt sidi 

85 


als Funktion der männlichen Erziehung: die Erzielung der 
psychischen Struktur, die den erreichten Gesellschaftszustand 
zu erhalten vermag, wenn diese psychische Struktur ein Plus 
an prinzipiellen Gebilden gegenüber der ursprünglichen bio- 
psydiischen enthält. Das Kulturplus der menschlichen Psyche 
zu erzielen und zu verewigen, ist ihre soziale Funktion, denn 
durch dessen Erzielung konserviert sich die erwachsene 
Gesellschaft in der von ihr erzogenen Generation. Idi habe 
oft betont, daß die Scheidung der beiden Erziehungsformen, 
männlich und weiblich, eine theoretisdie, wissensdiattlidie 
Abstraktion ist. Im konkreten Fall sind sie in einem 
bestimmten Misdiungsverhältnis vorhanden und erfüllen 
zusammen die Gesamtfunktion: der physischen Erhaltung 
der Gesellschaft, der Sicherung und Beeinflussung der organi¬ 
schen Rekapitulation, deren Korrektur und Ergänzung durdi 
Erzielung des Kulturplus: die Erhaltung der erziehenden 
Gesellschaft und ihrer psychischen Struktur. 

Ilreit und ausführlich habe idi die Urgesdiidite der 
Erziehung — ihre Anfänge — behandelt, von denen wir 
nichts wissen; ich werde, unserem steigenden Wissen ent¬ 
sprechend, beträchtlich kürzer verfahren, je näher wir dem 
Zustande der Erziehung in unseren Tagen kommen. Nicht 
getreu dem Dogma der neuesten Wissenschaftsersätze, viel 
Kenntnisse hindern die Erkenntnis (Schau), sondern meiner 
Absicht eingedenk, keine Psychologie, keine Soziologie, keine 
Gesdiichte der Erziehung zu schreiben, vielmehr eine Er¬ 
ziehungswissenschaft, die es noch nicht gibt, voraussetzend, 
die Grenzen aller und heutiger Erziehung abzustecken, da¬ 
durch für midi wenigstens und einen meiner Leser jene 
Erziehungswissenschaft vorbereitend. 

Einige Etappen auf diesem langen Weg der Erziehungs- 
gesdiichte müssen bezeidinet werden. Sehr früh, so dürfen 
wir uns vorstellen, dringt die männliche Erziehung in die 


86 



Paargruppe ein, ohne sie zu zerstören, ohne organisiert zu 
sein, durch tränkt sie doch die weibliche Vcrhaltungs weise mit 
allerhand Verboten, neuen Zügen, Umdeutungen, Modifika¬ 
tionen, deren Funktion die Erleichterung und Sicherung der 
Kulturplus-Erzielung ist. Idi habe früher sdion Beispiele 
dieser Verschiebung des Beginnes der männlichen Erziehung 
gegeben. Sie tendieren dahin, die Trennung des Kindes von 
seiner Mutter früher, langsamer oder energischer zu voll¬ 
ziehen; den Vater als Partner in die Objekte der libidinüsen 
Identifikation einzureihen; der rekapitulativen Triebent- 
widdung Versagungen häufig, früh und anhaltend zu setzen; 
sie durch Angst zu zersetzen; durch Angstüberwindungen, 
die neue Lustformen schaffen, endgültig abzuleiten; ins¬ 
besondere die Mutter zu verhindern, durch ungebrochenen 
Liebesausdrude allzu intensive Liebesblndung des Kindes zu 
erreichen. 

Ich wage nicht zu entscheiden, und fühle mich nicht ver¬ 
anlaßt durch irgend eine Konstruktion oder Vermutung den 
Leser unnötig zu verstimmen oder zu begeistern, ob es 
diese Maßnahmen, oder welche sonst es waren, genug, ein 
sehr erstaunlicher Erfolg ist eingetreten. Wann? Wer weiß, 
vielleicht heute noch nicht restlos, vielleicht in den frühesten 
Zeiten der Vorgeschichte. Die Kindheitszeit hat sich ver¬ 
längert. Was ursprünglidi eine künstliche Einschaltung in die 
Entwicklung war, ein Ritus von einigen Wochen, der natür¬ 
lich das Reifen des Körpers so wenig beeinflußte, wie etwa 
die Abiturprüfung bei deren glorreichen Einführung anno 
1812, ist irgend wann einmal eine Veränderung des psychi¬ 
schen Entwicklungsprozesses, seine Streckung um eine statt¬ 
liche Anzahl von Jahren, geworden. Sie wird in Europa auf etwa 
zehn Jahre zu schätzen sein. Denn an Stelle der wenigen 
Monate Initiation bei den Primitiven erleben unsere Kinder 
eine Fortsetzung ihrer Kindheit über das sechste Jahr hin- 


87 


aus, etwa bis ins vierzehnte, daran schließen sich etwa zwei 
Jahre Pubertät, und mit sechzehn Jahren erst ist der euro¬ 
päische Jüngling in dem Sinne reif, den die Beendigung der 
Initiation beim primitiven Jüngling im zehnten oder drei¬ 
zehnten Jahre ausspricht. Die Kulturentwicklung brachte 
hier, zum Teil schon in historischen, w’ohlüberschaubaren 
Zeiten, Komplikationen und Differenzierungen von beträcht¬ 
licher Größe und immenser Bedeutung für die Erziehung. 
Das ursprüngliche Kind - bei Tier und Urmcnsdi - erreidit 
zugleich das Ende von physischer Entwicklung und psychischer 
Entfaltung, es wird physisch und psychisch zuglei di reif, die 
Entwicklung beider Linien geht parallel; ist ihr Ende er¬ 
reicht, so ist es auch zugleich „sozial” reif, es darf von nie¬ 
mand gehindert werden, sowie es körperlich hiezu fähig ist, 
sich auch sexuell wie ein richtiges, vollgültiges Tier zu benehmen 
und es hat die psychische Bereitschaft hiezu in Einem mit er¬ 
langt. Die Kultur brachte eine Trennung dieser drei Belange; 
die psydiische, die physische und die soziale Reife haben je 
ihre eigenen Wege zu gehen und sind zu verschiedenen 
Terminen fällig. Die soziale Reife ist deutlich von kulturellen 
Momenten bestimmt; sie ist von der Kiassenlage des Jugend¬ 
lichen und von seinem Vermögen abhängig. Der fünfzehn¬ 
jährige Proletarierjunge, der in der Fabrik seinen Lebens¬ 
unterhalt vollständig verdient, hat zwar rechtlich die Selb¬ 
ständigkeit des Erwachsenen noch nidit erlangt, mag als nicht 
vollwertig von seinen Verwandten und Arbeitsgenossen 
betrachtet werden, er hat aber doch Freiheiten auch auf dem 
Gebiet der sexuellen Betätigung, die er nicht nur je nach 
seiner physischen und psy duschen Reife nützt, sondern für 
die er auch die Sanktion in der öffentlichen Meinung seiner 
Umgebung erhält. Der gleichaltrige Gymnasiast hingegen wird 
sidi bei gleicher physischer und psychischer Reife dieselbe 
Freiheit nur als strafbares Verbrechen in aller Heimlidikeit 


88 



und Verworfenheit gestatten dürfen. Weniger offenkundig 
ist audi die psydiisdie Reife mehr von Kulturfaktoren als 
von dem physischen Zustand des Sexual apparates im weitesten 
Sinne des Wortes abhängig. Die seelisdie Bereitschaft, erwadi- 
sene Funktionen, in der Liebe so gut wie im Wirtschafts- und 
Kulturleben, auszuüben, kann verfrüht auf treten, zu einer Zeit, 
wo der Körper, noch unentwickelt oder schwach, diese Bereit¬ 
schaft zu Phantasien zu verkümmern oder voller Verdrängung 
anheimzufallen zwängt, wobei die sozialen Kräfte, durch die er¬ 
ziehende Umgebung des Kindes repräsentiert, diesen Unter¬ 
gang beschleunigen. Die Lehre Freuds hat uns gezeigt, wie 
dieser Fall der normale ist und in verhältnismäßig früher 
Kindheit statthat. Die seelisdie Bereitsdiaft, die psychisdie Reife, 
kann aber auch monate-, jahrelang nach der erreichten physi¬ 
schen eintreten. Die Diskrepanz zwisdien dem Drängen des 
Körpers und dem Wider willen, der Ahnungslosigkeit, der Angst 
des Ich erzeugt dann jene widerspruchsvollen, genialisdien oder 
idiotischen Wirbelstürme der Seele, die wir Pubertät nennen, 
und die bis weit in die Zwanzigerjahre hineinreichen, oder 
aber nach kurzer Zeit erwachsenem Frieden, von Wirbelköpfen 
als Philistertum beschimpft, weidien können. Die Tiere und 
die menschlichen Urgesellsdiaften kennen diese Komplikationen 
nidit; sie entstanden erst mit diesen Komplikationen der 
Gesellschaft selbst. 

Von unvergleidilidier Bedeutung für die Erziehung war 
aber eine Entwicklung, die sich in frühesten Zeiten, gewiß 
bald nach den Revolutionen, die gesellschaftlich durdi Inzest- 
scheu und Schuldgefühl entstanden sind, auf einem Kultur¬ 
gebiet vollzog, das mit der Erziehung selbst umittelbar nichts 
zu tun hat. Die primitive Wirtschaft erfuhr prinzipielle Ver¬ 
wandlungen: soziale Madit und Besitzungleichheit, Besitz 
überhaupt, entstanden; auf dunklen Wegen, die zu verfolgen 
nicht unser Amt ist. In irgend einer Weise hat das Schuld- 


* 


89 



gefühl, hat der sexuelle Besitzwunsch, die Besitzsdieu auf 
die Wirtschaft und auf Wirtschaflsobjekte übergegriffen. Die 
durch jene Urrevolutionen geschaffene neue Gesellschaft, die 
an der Wirtschaftsweise der Urgesellschaft — in gewissem Sinn 
eine Art Kommunismus — wenig geändert haben mag, deren 
Reformen sich anfangs auf die neue Gestaltung der sexuellen 
Frage bezogen, und deren erste Ausstrahlungen sich auf 
sozusagen geistige Gebiete erstreikten (sind doch die Anfänge 
von Religion, Kunst, Erziehung Neuerwerbungen der auf 
Schuldgefühl basierten Männergesellsdiaft), deren tiefste 
Tendenz auf die Bereicherung der Biopsyche durch das 
Kulturplus gerichtet war, begann auch die W irtschaftsweise in 
das System ihrer Umgestaltungen einzubeziehen. Die Wirt¬ 
schaft, die sachlichste aller menschlichen Angelegenheiten, 
wurde in den Wirkungskreis des Libidinösen, des Sdiuld- 
gefühls hineingezogen. Eine Entwicklung von so ungeheurer 
I ragweite, von so intensiver Nachwirkung auf jeden Atem¬ 
zug jedes heute lebenden Menschen, daß ihr gegenüber die 
Sdmldfrage nicht aufgeworfen werden kann, und wir uns be¬ 
gnügen müssen und können, festzustellen, daß alle heillosen 
Verwicklungen in denen wir leben, in denen die Menschheit 
seit Jahrtausenden zu keiner Ruhe, zu keinem Glück ge¬ 
langen kann, daß all dies, das man Weltgeschichte 
und soziale Frage, Revolution, Entwicklung un d Still¬ 
stand, Aufblühen von Kulturen und Völkern, Unter¬ 
gang ganzer Länder nennt, daß es, indem der uner¬ 
schrockene Forscher dahinter letzten Endes die Wirt¬ 
schaft und ihre autonomen Gesetze und deren allseitige 
W irkungen erkennt, in noch tieferer Schichte, aber darum nicht 
weniger bis ans Gekräusel der Oberfläche reichend, Folge 
jener in grauen Anfangszeiten eingetretenen Durchdringung 
der Wirtschaft und damit restlos des Ganzen der Gesell¬ 
schaft durch das Schuldgefühl ist. Vielleicht hat eine über die 

90 





Menschheit zu ungelegenster Zeit hereingebrochene Not¬ 
katastrophe, die Eiszeit darf hier so gut in Frage stehen, 
wie ein beliebiges anderes Ereignis, diesen Prozeß erzwungen 
oder ihn nur befördert, vielleicht war er notwendig, zu 
welch ein Endzweck immer, — was sich Sozialismus mit Recht 
nennen darf, erstrebt seine Liquidation. Der Pessimist wird 
nicht so unbesdieiden sein und erwarten, daß gerade ihm 
gegönnt sein mag, das Ende einer so langen und so furcht¬ 
bar verwirrten Geschiditsepoche noch mitansehen, den 
Beginn einer vielleicht nodi. längeren und hoffentlich glück¬ 
licheren erleben zu dürfen; er wird sogar zweifeln, ob irgend 
ein Anzeichen verrät, daß dieses glüddidie Ende nicht nur 
ersehnt und erhofft, sondern audi erwartet werden darf, 
und wenn er heiter von Gemüt ist, wie der Verfasser dieses 
Buches gelegentlich, so wird er gestehen, daß etwas von 
Mißgunst und Sdiadenfreude mit den künftigen Geschlechtern 
seiner Skepsis beigemengt ist. In Jedem Fall hat seit jener 
verhängnisvollen Irradiation die menschlidie Gesellsdiaft auf¬ 
gehört, ein einfadies Gebilde zu sein, das in einigen seiner 
Strukturelemente von den Triebbedürfnissen, in anderen 
von den sadilidien Bedingungen des t utters, seinem A or- 
kommen, seinen Beinäditigungsbedingungen bestimmt ist, 
sondern sie w’urde ein in jedem unscheinbarsten und wesent- 
lidisten ihrer Elemente unübersehbar verschlungenes Gestrüpp 
von Hunger und von Liebe. Kein Wirtschattszug, der nicht mit 
— und wäre es unkennbar fein sublimierter — Sexualität 
gefärbt wäre, keine Regung der Biopsydie, die nicht eingeengt 
wäre in die konkreten Bedingungen einer Wirtschaft. 

Hier ist die Stelle, wo ich gern einige Autoren zitieren 
würde, um nicht selbst die Verantwortung für Anschauungen 
tragen zu müssen, die mancher Leser mit mir nicht teilt, 
wenn idi nur solche Autoren kennte. Aber leider, keiner, 
von denen idi etwas las, ist von genügender Deutlidikeit 


91 



und'Ausführlicfakeit, beherrscht die beiden Tatsadiengebiete, 
wenn es sidi darum handelt, die Wechselwirkungen zwischen 
den Wirtschaftsprozessen und den biopsychischen Reaktionen 
und Abläufen darzustellen. Der flache Psychologismus in der 
Soziologie ist längst oder bald in seiner ganzen Langweilig¬ 
keit erkannt; weder die Wünsche des wirtschaflenden Men¬ 
schen noch seine Ideen sind die Motoren des wirtschaftlichen 
Geschehens; vielmehr sind jene durch es entstanden und 
diese seine Rechtfertigung (und der Protest dagegen). Aber 
die tiefere psychische Struktur des Menschen ist unbeeinflußt 
vom Wechsel der Produktionsformen und ihrer Ideologien. 
Ls ist möglich, viel vom wirtschaftlichen, vom gesellschaft- 
lichenGesdiehen zu deuten, als wärenhier nur Triebumsetzungen 
einer menschlichen Seele. Wie die Technologie als Organ- 
projektion gesehen werden kann, so die Gesellschaftsformen 
als irgend eine psychoäde Umsetzung. Es ist, als wäre die 
Wirtschaftsform eine Art materialer Gestaltung und Recht¬ 
fertigung des Gesellschaftsunbewußten; eine Art Ideologie 
des Schuldgefühls. Man kann Marxisten sehr böse machen 
durdi soldie Gedankengänge. Und man verscherzt sich leicht 
die Sympathien der Psychoanalytiker, wenn man behauptet: 
trotz allem, Karl Marx hat doch recht. Einfach recht. 
Beide haben recht. Nicht die Marxisten und die 
I reudianer, sondern Marx und Freud. Es ist die Ge¬ 
schichte mit dem Zeppelin, der in den längst vergangenen 
Zeiten, als er noch gar nicht so recht funktionierte, das 
Argumentum ad absurdum der edlen Kämpen war, die in 
Freudschen Lehren recht unbegabte und verwirrte Gedanken¬ 
gänge eines perversen jüdischen Gehirnes entdeckten, und 
die meinten, sie würden ihn völlig zerstören, wenn sie ihn 
vor die Gretchenfrage stellten, ist jenes Instrument nun ein 
Penissymbol oder ist es die geniale Konstruktion eines Er¬ 
finders, die reale Aufgaben erfüllt ? Heute weiß jeder Gym- 

92 




nasiast, daß ein Pcnissymbol sehr wohl ein braudibares 
Flugsdiiff sein kann, weil jenes einen der Mechanismen der 
psychischen Erfinder-Leistung, dieses die Bewertung der 
technischen Leistung bezeichnet. Nicht weniger banal ist sehr 
bald das psychisch-ökonomische Dilemma zu lösen. Das Heer 
ist eine strukturierte Masse, „in der jeder Einzelne einerseits 
an den Führer, andererseits an die anderen Massenindividuen 
libidinös gebunden ist” (so lautet Freuds böser, „reaktionärer, 
bourgeoiser” Satz), aber es ist auch das Instrument der 
herrschenden Klasse zur Sicherung ihres nationalen Aus¬ 
beutungsmonopols, ihrer Macht, ihres Profits, ihrer Industrie 
usw. Jenes auf einen seiner psychischen Mechanismen, 
dieses auf seine soziale (ökonomische) Funktion hin betrachtet. 
Es ist aber nicht der Hort zur Wahrung Deutschlands 
höchster Volksgüter, sondern so wird es gegenüber dem 
Defaitismus gerechtfertigt. (Verstehen meine teuren Genossen 
diesen Unterschied; ein wahrhaft kapitaler Unterschied?) 

Aber gewiß, man kann noch witzigere Dilemmen erfinden. 
Kinder jeden Alters fragen, die sexuelle Aufklärung zu 
höhnen, wer zuerst war: die Henne oder das Ei, und permu¬ 
tieren als geistreiches Problem das Aufklärungsspiel: was 
zuerst war: die biopsydiische Struktur oder die Ökonomie. 
Nun, kleinen Kindern, die mich derart belästigen, würde ich 
zeigen, daß sie, so fragend, die Henne so wenig wie das Ei 
glauben würden, daß sie demnach mir überhaupt nidit 
glauben wollen, weil sie ja gar nicht das, sondern etwas 
anderes wissen wollen, z. B. ob ich bürgerlich oder kom¬ 
munistisch wähle. Hingegen reiferen Erwachsenen kann man 
doch vielleicht klarmadien, daß unbezweifelbar das Ei an 
allem Anfang stand, wo hingegen, falls sie nach dem Hühnerei 
fragen, hinwiederum die Henne selbigem voraufgegangen 
sein muß. Und gleicherweise die biopsydiische Struktur ganz 
allgemein vor der Wirtschaft da war, welche eine Reaktion 


93 


dieser Struktur auf Ökonom isdie Not ist (siehe Amöbe), 
während die aus einer bestimmten Wirtschaftsweise sich 
ergebenden Strukturänderungen und -ergänzungen wieder 
der Ökonomie folgen. Großen Kindern dagegen würde idi 
sagen, daß das eine überaus sdiwierige Frage sei, die ich 
ihnen erst beantworten könnte, wenn sie hübsth fleißig 
Biologie, Psychoanalyse und Soziologie von Grund auf gelernt 
hätten. Denn große Kinder sind sehr große Dummköpfe in 
allen Fragen der Aufklärung. Ich maße mir nicht an als 
Stegreifübung und Fleißaufgabe die Beziehungen sozio¬ 
logischer Natur hier reinlich zu formulieren, ich gehe aber 
— unbekümmert von solchen Argumenten, bekümmert bloß 
durch das Gefühl, daß ich Selbstverständlichkeiten nur 
wegen meiner Literaturunkenntnis, fürchte ich, wie originelle 
Gedanken ausstaffieren muß — den Zickzackweg dieser Er¬ 
örterungen weiter, selbst schon neugieriger und ungeduldiger 
als der Leser, wo in diesem Dickicht die Grenzsteine der 
Erziehung sichtbar werden sollen? 

Und überrasche uns alle durch die Behauptung, es gäbe 
natürliche und unnatürliche Wirtschaftsweisen. Und setze 
mit der noch erstaunlicheren Banalität fort, die Tiere bedienten 
sich im allgemeinen der natürlichen Wirtschaftsweise. Sie 
besteht darin, daß der Nahrungserwerb ein direkter ist. Sie 
jagen und verzehren dies Gejagte in den Anteilen, die der 
Stärke oder^der Jagdbeteiligung jedes Einzelnen zukommen. 
Dies gilt auch für die Pflanzenjäger; auch dort, w t o so etwas 
wie Bewirtschaftung vorkommt: Aufbewahren des Futters 
für die Zeit der Not. Herabsetzung der Arbeitsleistung und 
gleichzeitige Erhöhung des Jagd-(oder Arbeits-)Anteiles für 
gewisse Individuen; gesellschaftlich verankerte Abgaben des 
einen Individuums an ein anderes, die nicht in Liebe 
begründet wären, also Ausbeutung durch Herrschaft ist eine 
Gesellungsform, eine Wirtschaftsweise, die der biopsychischen 


94 




Struktur fremd ist, die, wo immer sie besteht, dem Kultur¬ 
plus angehört. Dieses der Kindheit zu vermitteln, die ohne 
solche Vermittlung die nötigen Verhaltungsweisen nicht an¬ 
nehmen, deren Formulierung in Redit, Sitte, Religion nidit 
kennen lernen würde, ist eine Funktion der Erziehung, ln 
einem gewissen Maß muß die Erziehung diese spezielle 
Funktion im Rahmen ihrer allgemeinen Funktion der Er¬ 
haltung der Gesellschaft in ihrem Kulturplusnivcau auf jeden 
Fall anstreben, wie immer die Gesellschaft auch sonst struktu¬ 
riert sei. Zwei Fälle bestehen aber, in denen dies Spezielle 
zu ihrer wichtigsten Funktion wird. Dort, wo die Wirtschafts¬ 
weise langjähriger Vorübung bedarf, und dort, wo sie aus¬ 
schließlich durch Macht erzwungen wird. Der erste Fall ist 
leicht einzusehen: Gesetzt, die Mensdiheit würde verhungern 
— und zwar zweifelsfrei und sdileunigst — wenn nidit jeder 
ihrer Erwachsenen 5000 Bücher auswendig kann, dann müßte 
durch ein System von sehr komplizierten Einrichtungen 
dafür gesorgt werden, daß jedes Kind von seinem mög¬ 
lichst 1. Jahre an beginne, einen Teil dieser Memorier¬ 
arbeit zu leisten uncl sie bei seiner Reife beendet habe. 
Wollte diese Gesellschaft sich erhalten, so müßte sie wohl 
diejenigen, die ihr Jahrespensum nicht erreicht haben, töten. 
Ich schätze, daß es sehr schwierig sein würde, dieses Resul¬ 
tat mit einer nötigen Anzahl von Überlebenden zu erreichen, 
d. h. es müßte im Zentrum der gesamten Fjziehung diese 
Aufgabe stehen und jede Sekunde des Kindeslebens wäre 
durch eine Rücksicht auf sie determiniert. Die Erziehung 
erfüllte ihre Funktion, das Kulturplus zu vermitteln, indem 
sie eines seiner Elemente als das wichtigste allen anderen 
vorzuzichen hätte, es gegebenfalls auf deren Kosten erreichen 
würde. Unsere bürgerlidi-kapitalistisdie Gesellschaft ist ein 
ungeheures Magazin von Sinnlosigkeiten, diese aber ist 
'weder wörtlich noch symbolisch in ihm enthalten. Man kann 


95 



unserem Produktionsprozeß und seinen ganzen Folgen, 
unserer Wirtsdiaft, nicht vorwerfen, daß zu ihrer Erhaltung 
besonders lange, besonders komplizierte Vorbereitungsma߬ 
nahmen in den wirtschaftenden Individuen nötig wären. Die 
weitaus überwiegenden Einzeltätigkeiten, aus denen sich 
unsere gesellschaftliche Wirtschaftsarbeit zusammensetzt, sind 
von Kindern zwischen acht und zwölf nach kürzester Lern¬ 
zeit, ja ohne sie leistbar. Sie wurden lange genug und 
werden auch jetzt noch in großem Maße tatsächlich von 
diesem Alter geleistet. Den Kindern fehlt Körperkraft, Er¬ 
fahrung, Widerstandsfähigkeit, Ausdauer, werden sie aber 
älter, so stellen sich diese Eigenschaften ein oder sind durch 
Zwang erreichbar. Der Jugendliche erlernt die Wirtschafts¬ 
tätigkeit in wenigen Wochen, in längstens ein bis zwei 
Jahren, ohne daß sein Kindheitsleben irgendwelcher spezieller 
Vorbereitungen bedurft hätte. Nur ganz wenige, übrigens 
ökonomisch sehr unwichtige Berufe bedürfen einer spezi¬ 
fischen Vorbereitung in der Kindheit, das Seiltanzen, Piano¬ 
virtuosentum und erbmonarchische Regieren etwa. Zerstört 
man etliche tief abergläubische Überzeugungen in sich, etwa 
die, daß Diplomaten und Politiker, Bureaukraten, Juristen, 
Bankiers viel jähriger Ausbildung bedürfen, der noch überdies 
eine viel jährige spezielle Kindheits- und Jugenderziehung vor¬ 
aufgegangen sein muß, so wird man finden, daß, von ganz 
wenigen Gruppen und Individuen abgesehen, die Vorbereitung 
zur Wirtschaflsfähigkeit nicht zu den zentralen Funktionen 
unserer Erziehung gehört, die Wirtschaftsweise nicht zu jenen 
Elementen des Kulturplus gehört, deren Erreichung zur tra¬ 
genden Funktion der Erziehung geworden ist. Trotzdem ist 
unsere Erziehung bis in ihre nebensächlichen Details von 
Geburt an auf die Wirtschaft eingestellt. Und zwar aus dem sehr 
einleuchtenden Grund, weil sie den zweiten Grenzfall darstellt; 
sie ist durch Macht, durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt* 


96 



Es ist eine recht betrübliche Komplikation, die unsere so 
einfache Formel der Funktion der Erziehung durch diese 
Tatsadie erhält. Noch betrüblidicr aber ist, daß diese Kom¬ 
plikation durch allerhand Umstände so sehr verdunkelt ist. 
Die intensivste Dunkelheit geht von der Pädagogik aus. Wir 
haben diese Tagnachtlampe beiseite gestellt. Wollen sehen, ob 
wir uns nunmehr rasdi genug, um Verleger nidit durdi zu 
dickes Manuskript, Leser nidit durch zu gelehrtes 1 ormat 
abzuschrecken, in dem verbliebenen Naturschwarz zuredit- 
tappen können. Wie es so wurde, weiß der gebildete Leser 
oder kann es in seinem Bücherfadi nadilesen. Es kam Jeden¬ 
falls so zwischen 1300 und 1500 im Abendland zur kapitali- 
stisdicn Klassen gesell sdiaft und kommt so seit 1789 immer 
besser und bunter. Uns interessiert nichts vom ganzen Drum 
und Dran, sondern das Einfadiste und Wcscntlidiste, daß in 
solcher Klassengesellschaft die Wirtschaft keineswegs dazu 
dient, den Hunger der Menschheit, idi meine jedes einzelnen 
Menschen, zu stillen, sondern dazu, den durch Genuß über¬ 
reizten Appetit ihrer Minderheit, und zwar einer recht 
unbeträditlidicn Minderheit, der Angehörigen der herrschenden 
Klasse bis zur Übersättigung zu befriedigen. Wobei als idealer 
Wirtsdiaftszustand der intendiert wird, in dem die herrschende 
Klasse nidit nur von jeder körperlichen Arbeit befreit ist, 
sondern ihre wirtschaftliche Tätigkeit sidi im Konsum der 
Wirtsdiaflsgüter und in der Produktions-Leitung, also in einer 
künstlerisdien, spielerischen, von äußerem Zwang freien, der 
eigentlich mensdilidien, Arbeitsart erschöpft. Daß diese über¬ 
aus gebildete und kultivierte Wirtschaftsordnung, die sidi 
mit Recht als gottgewollt bezeichnet, — denn daß sie von Men¬ 
schen nidit gewollt sein darf, duldet keinen Zweifel — der 
Mehrheit der Betroffenen wenig gefällt, das ist ihre wunde 
Stelle. VVar um die besagte Mehrheit die Minderheit nidit 
einfadi vernichtet hat, ist nur sehr schwer einzusehen. Gedacht 


Bernfeld, Sisyphos 7 


97 



hat sie daran, sie hat es gelegentlidi auch versucht. Ich kann 
nicht finden, daß sie dabei glüchlidi verfahren ist. Entsdiuldi- 
gungsgründe bietet sehr reichlich die Tatsache, daß die 
herrschende Klasse sich natürlich nicht damit begnügt, die 
Wirtschaft zu beherrsdien, sondern daß sie klug und kon¬ 
sequent jegliche Herrschaftsposition besetzt und zur Sicherung 
ihrer wirtschalUidien Situation verwendet hat. Sie liegen 
audi in sehr merkwürdigen ökonomisdicn Tatsadien, denn 
dieses wie jedes ökonomische System hat seine autonome 
Logik, sie heißen diesen Falls die Gesetze des Kapitals. Zu 
ihnen gehört ein Faktor, der für die Nationalökonomie 
nicht von solcher Wichtigkeit ist wie für die Erziehungs- 
wissensdiaft. Die Herrsdiaftsgewalt der herrsdiendcn Klasse 
ist in der mannigfaltigsten Weise verschleiert. Die aus¬ 
gebe utctc Mehrheit ist nidit nur in gewissen widitigen Be¬ 
langen an die Interessen der herrschenden Klasse gebunden, 
sie ist nicht nur in ihrer eigenen MachtentWicklung gebrochen, 
indem weite Kreise von ihr der herrschenden Klasse näher¬ 
gerückt sind als ihrer eigenen, die Bourgeoisie weiß auch 
diese verbliebene Macht von den eigentlichen Quellen abzu¬ 
leiten. Dem Proletariat wird der Feind geheimgehalten und 
es werden ihm Pseudofeinde präsentiert, an denen es seine 
Affekte abreagieren und durch Serien vergeblidier Revolten 
seine Machtlosigkeit resignierend erleben soll. 

Es ist bekanntlich die Arbeiterbewegung, der Marxismus, 
dem es zu verdanken ist, wenn dies dem Bürgertum nidit 
völlig gelang, es ist die Folge, des ferneren, der Tatsadle, 
daß das Klasseninteresse der Bourgeoisie seinerseits den 
Gesetzen des Kapitalismus unterworfen ist, das der Aus¬ 
beutung gewisse Grenzen, der Sozialreform gewisse Ziele 
setzt, es ist schließlich das Ergebnis der historischen Situa¬ 
tion, daß nämlidi das Bürgertum aufstrebend revolutionäre 
Aufgaben gegenüber der es beherrschenden feudalen Klasse 


98 



f» 


hatte und der Hilfe des Proletariats bedurfte, die - ungern 
und untreu genug - bezahlt werden mußte. Allen diesen 
Mäditen gegenüber hat die herrsdiende Klasse als sehr 
respektables Kampfmittel die Erziehung. Sie verleiht ihr 
eine Tendenz: Die Madit der herrschenden Klasse zu sichern. 
Diese Maditsicherung ist durdi die Erzielung des Kulturplus 
in der heranwadisendcn Generation nidit gegeben. Inzest- 
scheu, Schuldgefühl mit allen seinen seelisdien und geistigen 
Folgen und Sdiöpfungen, die ganze 1 ülle europäischen 
Könnens und Wissens, und die Beherrschung der heutigen 
Produktionsweise, dies alles begreift nodi keineswegs in sidi 
die Bejahung der konkreten Machtbeherrschung und Gewinn¬ 
verteilung, die bürgerlich-kapitalistische Ordnung heißen. 
Denn die Herrschaft der Bourgeoisie ist eine Zwangs- und 
Gewaltherrschaft; eine soldie kann durdi kein anderes Mittel 
als durdi fortgesetzte Zwangs- und Gewaltherrschaft erhalten 
und fortgepflanzt werden. Sie kann eben nur weitergepflanzt 
werden. Das heißt, im Grunde bedarf es keiner Erziehung, 
da ihr wesentlidistes Zielstück ohnehin nur durdi Madit- 
ausübung erreidit werden kann. So war es audi lange genug. 
Wem war es vor Pestalozzi eingefallen, die »Armen zu 
erziehen? Die bedrohte Klassenherrschaft erst ist es, die in 
die Erziehung, w r eldic ihre Funktion still und selbst verstäncl- 
lidi erfüllte, eine Tendenz einführt. Und zwar um die Madit - 
ausübung zu erleiditern, die neuen Gegenmaditkonzentra- 
tionen, die dein Bürgertum in der organisierten Arbeitcr- 
sdiaft erwachsen, zu paralysieren. Die Erziehung wird ein 
Gegenstand öffentlichen Interesses. 

Die Tendenz ließe sidi von einem unvorsiditigen, aber 
sehr klugen und klassenbewußten Bürger Madiiavell etwa 
so formulieren: die Kinder müssen die bürgerliche Klasse 
lieben lernen. Und dieser Unterridit muß so nadidrücklidi, 
so sicheren Erfolgs sein, daß ein ganzes Leben, in Not und 

7 * 


99 


Sklaverei verbracht, nicht hinreicht, diese Liebe zu verlöschen. 
Was in Wahrheit gewaltsam erzwungene Ausbeutung ist, 
wir wissen es, soll ihnen als freiwillig dargebradites Opfer 
der Liebe erscheinen. Sie sollen Mehrwert leisten, aber sie 
sollen es gern tun, aus innerem Liebeszwang, so wie 
der Liebhaber seiner Geliebten, der Gläubige seinem Gott 
opfert. 

Bei Gott, Bürger Machiavell ist ein kluger Mann. Wir 
ernennen ihn zur Exzellenz Unterrichtsminister und beauf¬ 
tragen ihn, dies teuflische Kunststück durchzuführen. Er — 
schlau wie er ist — studiert keineswegs als Vorbereitung 
experimentelle Didaktik, belegt kein einziges Kolleg von 
Spranger, hat eine diabolische Art, Sterns Kinderpsychologie 
und K W. förster zu loben, ohne sie zu lesen, aber er hat 
die Psychoanalyse profund kapiert und hält den Hofräten 
und Vortragenden Räten seines Ministeriums ungefähr die 
folgende Programmrede (gekürztes Stenogramm): 

»* - * Dieses, unser Ziel, zu erreichen, schlage idi Ihnen fol¬ 
gende organisatorische Maßnahmen vor. Sie müssen nämlich 
verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das 
entscheidende Problem ist, das wir konsequent und uner¬ 
bittlich unserem Einfluß restlos Vorbehalten müssen, während 
wir die Lehrplan- und Unterrichts-, seihst Erziehungsfragen 
beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozial¬ 
demokraten überlassen können. Doch werde ich auch in dieser 
Zulassung taktisch vorgehen. Sie wird gefordert werden, wir 
lassen lange um sie kämpfen, und gewähren sie in Form 
von Konzessionen immer dann, wenn wir eine Ablenkung 
der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit für nötig halten. 
Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der 
bürgerlichen Jugend von der proletarischen. Ich hoffe, Sie 
vergessen keinen Augenblick, daß wir uns in geheimer Amts- 


100 



Sitzung befinden, und werden sich hüten, der Presse diese 
Formulierung mitzuteilen. Es ist dies auch nicht nötig, denn 
die bürgerliche Jugend sind die Kinder jener Familien, die 
vor jeder Proletarisierung in dieser Generation völlig ge¬ 
sichert sind. Es sind nicht sehr viele. Aber es sind die, auf 
die es ankommt. Wir haben sie keineswegs in getrennten 
Schulen zu erziehen. Dies würde unnötiges Aufsehen erregen. 
Und das Vermögen und soziale Ansehen ihrer Väter sichert 
ihnen ohnedies eine ungestörte Sdiullaufbahn. Sie sind die 
erblichen Herrscher unserer Gescllsdiaft und Wirtschaft, be¬ 
stimmt, ihre Macht ungekrönt und unbekannt sogar auszu¬ 
üben. Es wird ihnen nützlich sein, den Zauber soldier In¬ 
kognitoexistenz und die Befähigung hiezu an Schule und 
Universität frühzeitig zu erfahren und zu üben, sdicinbar 
völlig gleich allen anderen, in Wahrheit schon die Herrscher 
mit der Schiefertafel — die wir übrigens absdiaffen sollten, 
da wir nicht genug llevolutiönchen madien können, und Sie 
sollen sehen, wie unser Staat ein Jahrzehnt lang von der 
wichtigen Frage: Schiefer oder Papier für Schulanfänger 
widerhallt! Wenn idi sage, wir wollen die bürgerliche 
Jugend von der übrigen trennen, so meine ich die 
Kinder jener Familien, deren künftige Klassenzugehörig¬ 
keit unsicher ist, die wir mit den Thronfolgern zusammen 
erziehen, aufwachsen lassen wollen. Sie werden sich, infolge 
der libidinösen Identifikation, wie Bemfeld sagt, für ihr 
Leben unseren Kapitalfürsten anschließen und ihnen treue 
Lchensritter sein. Natürlich bloß mit der Treue, die Lehens¬ 
rittern seit alters her spezifisch war. Die provisorisdie Treue. 
Sie werden sidi redlich bemühen, an die Stelle des Fürsten 
zu gelangen, sein Land — ich meine das bildlidi, wie Sie 
wohl verstehen - zu erobern, den Fürsten zu töten. Aber, 
und wenn ihr Gehalt kaum zum Leben hinreichen sollte, 
sie werden zwar die persönlkhcn Feinde aller Besitzer, aber 


101 



nimmermehr des Besitztums sein, mit dem sie identifiziert 
sind. Eine tüchtige Identifikation zeugt Hoffnungen, denen 
lebensliinglidie Enttäuschungen nichts anhaben. Idi empfehle 
also einen IntellektueUenstand zu schaffen, indem Sie die 
quasi bürgerliche Jugend durch eine Bildungski uff von der 
proletarisdien trennen und sie durdi Identifikation für 
ewig im Wünschen und Denken mit der besitzenden Klasse 
verknüpfen. Diese psydiologisdie Basis erst wird sie gegen 
die Einsicht ihrer ökonomischen Situation sichern und ihre 
individuellen Chancen für den ökonomischen Aufstieg, die, 
wenn auch klein, im Prinzip vorhanden sind, im Sinne ihres 
Ideals erkämpfen lassen. Kur so erreichen wir die para¬ 
doxen Existenzen, die ohne Besitz für ihn kämpfen, denn 
der integre Bestand unserer Klassenherrschaft gibt ihnen die 
Chance, ihr Ideal zu erreichen, ja es ist mit ihr eigentlich 
sdion erfüllt. Enter zwanzig Jahren werden wir keinen dieser 
Jünglinge, womöglidi keinen unter fünfundzwanzig Jahren, 
in die wirtsdiaftlidie Realität eintreten lassen. Jeder soll ad 
libitum die Glücksmöglichkeiten des Besitzes kosten, sie 
sollen sich ihm mit der Lust der jungen Erotik, mit Freiheit 
und Trubel unlöslich verknüpfen, er soll in diesen gefähr- 
lidien Jahren, wo Querköpfe, und in der Pubertät wird 
man sehr leidit querköpfig, bereit sind, die Gesellschaft auf 
Gerechtigkeit und Recht zu prüfen, sie nidit kennen lernen in 
ihrem wirklichen Bestand. Und wenn er sie mal kennen lernt, 
soll er sie und ihre Vorteile, für sidi und den Besitzenden 
überhaupt, nidit mehr entbehren können; Sie sollen sehen, 
wie er sie gründlich auf Grund seiner erlernten Philosophie 
bejahen wird. Idi werde verbieten, daß man Studenten auf 
den Universitäten duldet, deren Väter sidi nidit zu einem 
largen Taschengeld entschließen wollen und können. Solche 
Kerle sind in höchstem Maße staatsgefährlkh... Diese Jugend 
bleibt also bis in die zwanziger Jahre in der Schule. Das 


102 



heißt, meine Herren, ich warne Sie aufs ernsteste, sidi hier 
in die pädagogischen Fragen einzumengen. Hierin haben Sie 
keinerlei Meinung und Überzeugung zu haben. Vergessen 
Sie nicht, Sie sind Beamte eines Unterrichtsministeriums. Als 
soldie haben Sie in Unterriditsfragcn strengste Neutralität 
zu wahren; es kann allerdings opportun sein, gelegentlich 
einen anderen Anschein zu erwecken. Was in diesen bür- 
gerlidien Schulen mit der Jugend geschieht, ist völlig gleich¬ 
gültig. Denken Sie diesen Gedanken durch! Wichtig ist bloß, 
wer in sie aufgenommen wird, und ob die Anstalten der 
quasi bürgerlichen Jugend die Möglichkeit geben, die An¬ 
nehmlichkeiten eines kultivierten Lebens schätzen zu lernen, 
verbunden mit der Erkenntnis, daß diese nur durch den 
Bestand unserer vortrefllidien Ordnung gcsidiert, lür sie 
selbst, gesidiert sind. Wir müssen durdiaus das Vorbild der 
englisdien Colleges erreidien. Doch empfehle ich Ihnen den 
Namen Landeserziehungsheim oder zur Verwirrung der revo¬ 
lutionären Jugend den der Sdnd gemeinde. Schütteln Sie nicht 
die Köpfe! Wir dürfen nicht kleinlidi sein. Idi werde ver- 
sudien, jeden Unterricht in diesen Schulen abzusdiaflen, 
dodi sehe ich, daß wir eine Übergangszeit nötig haben, für 
sie gilt: Unter Berücksichtigung des Prinzips der Jugend¬ 
gemäßheit aller Erziehung ist die Pubertät, die idealistisdic 
Lebenszeit kat exodien, mit großen Worten zu fidlen. Als 
solche werde idi vorsdireiben: Vaterland — Kultur — 
Nation - Kultur — Wissensdiait — Kunst — Kultur — 
Volk - Rasse - Kultur. Die Lehrer werden beauftragt 
sein, zu glauben, daß dies die Maßstäbe und Merkmale des 
Fortschritts sind, und werden zu zeigen haben, daß die 
letzten Jahrhunderte eine Kette von glücklichen Entwicklun¬ 
gen sind, untcrbrodien von kulturfeindlichen Revolutionen, die 
ja Kultur werte zerstört haben, während die Volksrestaurationen 
sie vermehrt haben. Da doch unsere Klasse clie kultiviertere, 


103 


wohlhabendere und glücklichere ist, repräsentiert sie das 
Volk, und dieses soll allgemach zu ihr erhoben werden. Bis 
dahin wird statt „unsere Klasse” natürlidi Volk gesagt. Ich 
wette, keiner der Lehrer wird hier eine Schwierigkeit finden. 
Sie werden bei den klassischen Autoren und bei den Dichtern 
des vorigen Jahrhunderts sehr braudibaren diesbezüglichen 
Lesestoff finden. Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja 
nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese 
Jugend etwas lerne. Sie dürfen nicht altmodisch sein; es ist 
hingegen sehr nützlich, wenn es die sozialistischen Parteien 
sind. Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste 
Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von 
selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens. Wir 
brauchen nur ein paar Stichworte zu geben, um den von 
selbst keimenden Gedanken die Autorität eines Kulturgutes 
zu verleihen. Im übrigen muß die Jugend zu Selbstbewußt¬ 
sein erzogen werden. Sie muß von ihrem Adel, ihrer Schön¬ 
heit, ihrer Kulturmission überzeugt sein. Scheuen Sie sich 
nicht, hier Wyneken zu verwenden. Es ist ganz ungefährlich. 
Denn alle Gefahrenkeime heben Sie auf, wenn Sie dieses 
Selbstbewußtsein der Jugend auf ihre Klasse übergehen lassen. 
Wir sagen natürlich Volk, Deutschtum und nicht Bürgertum. 
Gewiß, das deutsche Volk neigt sehr dazu, diesen Begriff Volk 
nicht zu akzeptieren. Es ist dies eine ungeheuer gefährliche 
Tatsache. Sie kann aber paralysiert werden durch eine ver¬ 
hältnismäßig leichte Reform. Sie verlangt nur den Mut zu 
einer völligen Dummheit. Man müßte die unbewußte Angst 
des Deutschen, die einem tiefen Minderwertigkeitsgefühl 
entspringt, in Aggression wenden. Man müßte die Deutschen 
glauben machen, sie hätten einen ungeheuer mächtigen, ge¬ 
meinsamen Feind, der unsere, ich meine des Volkes, heiligsten 
Kulturgüter gefährdet, den man durch gemeinsame, ungeheure 
lat zu vernichten hätte. Nur freilich darf das kein wirklich 


104 






gefährlicher Feind sein, etwa Franzosen, sonst entsteht ja 
Realangst, und wenn wir ihn etwa besiegen, so stehen wir, 
wo wir vorher standen. Es müßte eine Fliege, ein Nichts 
sein. Das hätte auch den Vorteil, daß wir romantische Ele¬ 
mente, die dem Deutschen und seiner Jugend liegen, mit 
verwenden könnten. Was meinen Sie zu einem Geheimbund 
von Fremdländischen, der die Deutschheit verfolgt? Man kann 
große Menschenmengen zu tiefen Identifikationen unter¬ 
einander und mit irgendeinem Menschen bringen, wenn sie 
vor einer gemeinsamen unheimlichen Gefahr stehen nnd 
Irgendeiner springt vor und rettet sie. Verstehen Sie allmäh¬ 
lich, was ich vorhabe? Wir versetzen die Jugend - und 
mit ihr die Gesamtheit - und zwar vorerst die quasi bür¬ 
gerliche Jugend, in panischen Schrecken vor einer unheim¬ 
lichen Madit, die sie bedroht, und dann springen Wir als ihre 
Retter vor und Führer. Lesen Sie von Professor Freud: Massen¬ 
psychologie - ein sehr brauchbarer Autor, sage ich Ihnen, 
wenn das nur die Sozialisten nicht auch merken, aber zum 
Glück scheinen sie ihn für einen Bourgeois zu halten - 
also bei Freud holen Sie sidi die Überzeugung, daß mein 
Vorschlag gelingen muß. Der bürgerlidie lypus, die bürger¬ 
lichsten Individuen würden zu den Idealen der Jugend wer¬ 
den, und sie würde in diesem Ideal sich zu einer selbstbe¬ 
wußten, stolzen, exklusiven Gemeinsdiaft bilden, die zugleidi 
restlos führbar wäre. Wenn wir nur den Feind hätten. Es 
ist sdiwer, ihn zu finden, denn er darf nicht da sein, und 
muß doch glaubhaft sein. Ich empfehle, die Juden zu diesem 
Feinde zu ernennen. Sie sind wirklich ungefährlich. In 
Deutschland stehen dieser Ö00.000 (mit Weib, Kind, Tuber¬ 
kulose und Krebs) gegen 60,000.000. Das ist ein gutes 
Verhältnis. Und sie sind wirklidi ein in jeder Hinsicht 
braudibarcs Volk; sie werden uns selbst helfen, in dieser 
oder in jener Weise. Sollten sie aber ja einmal geprügelt 


105 





oder totgeschlagen werden, so sind deren in anderen Städten 
und Ländern genug übrig, um den Schrecken vor ihnen 
permanent zu erhalten. Mit Hilfe des sorgfältig gepflegten 
und angewandten Antisemitismus erhalten wir jene stolze und 
selbstbewußte, nämlich von sich, ihrer Wertigkeit, ihrem 
Volks- und Rassenadel durdidrungene bürgerliche Jugend, 
die identifikatorisdie Bestrebungen bis in weite Schichten 
des Proletariats erwecken wird. Und auf diese Haltung und 
Einstellung des Proletariats kommt es uns an. Damit kommen 
wir an jene Organisationen der Erziehung, die sich an die 
proletarische Kindheit und Jugend wenden. Wir sind in 
völliger Übereinstimmung mit den Interessen der Industrie, 
wenn wir den Grundsatz strenge durchführen werden: die 
proletarische Jugend gehört in die reale Wirtschaft, in die 
l abrik. Ls dient auch dem wohlverstandenen Interesse des 
Kapitals, w T enn auch nicht immer dem Wunsche jedes ein¬ 
zelnen Unternehmers, die Kinder bis zu einem gewissen 
Grad der Arbeit zu entziehen und sie in den Schulen zu 
sammeln. Als den für unsere Zwecke günstigsten Termin für 
den Sdi ul beginn habe ich das sechste Lebensjahr erkannt. 
Das Kind hat eben eine überaus wichtige Katastrophe, psy¬ 
chologisch, ja psychoanalytisdi gesehen, hinter sich, oder be¬ 
findet sidi in ihr. Es hat vor der väterlichen Besitzmadit, 
unter starker Angstentwicklung kapituliert und auf den 
Besitz der geliebten Mutter verzichtet. Es sucht nun für seine 
ungebundene Liebe neue Objekte. Sie sollen ihm in Gestalt 
seiner Lehrer, noch besser wären prinzipiell unverheiratete 
Lehrerinnen, unserer Agenten, entgegentreten. Es hat sich 
aber zugleidi eine sehr tiefe Einsidit in seine eigene Unzu- 
länglidikeit geholt, damit die Bereitsdiaft, sidi Autoritäten 
zu unterwerfen, die noch unterstützt wird durch die in 
diesen früh kindlichen Kämpfen und Ablösungen entstandene 
Instanz im eigenen Ich, das Schuldgefühl, die Strafbereit- 

106 



schaft. Erwadit nun irgendeine Regung der Ablehnung, so 
wird sie sidi in der Autorität der Sdiule die empfindlichste 
Niederlage holen. Dabei sorgen wir dafür, daß die Sdiule 
eine Staats- und Volkseinrichtung wird, und erreidien so, 
daß das Kind den Staat und das Volk als eine erweiterte 
Familie auffassen lernt; was zwar grundsätzlidi falsdi ist 
und selbst für unseren Staat nur sehr teilweise gilt, aber 
die günstigste psydiologisdie Atmosphäre für seinen Bestand, 
das sicherste Sdiutzmittel — soweit eben psychische Ange¬ 
legenheiten hier mit wirken gegen jede entschiedene 

Gesellschaftsrevolution ist. Wie die Familie, sage ich: da ist 
der Vater, der befiehlt und straft, der aber auch freundlich 
ist, wenn eins sehr brav war, aber auf alle Fälle fern und 
übermächtig. Er trägt den schönen Titel: Direktor. Da ist 
die Mutter: die Lehrerin, die freundlich, nah, liebevoll, aber 
launisch ist, die man gleichfalls, aber deutlicher noch durch 
Bravheit gewinnt; die ihrerseits vor dem Direktor zu zittern 
hat. Da sind schließlich die Geschwister Schulkameraden, 
nach Sitte und Recht alle einander völlig gleichgestellt, aber 
freie Bahn ist dem Tüchtigen offen; der volle Betrieb der 
freien Konkurrenz ist durchgeführt; man kann nach oben 
gelangen auf den ersten Platz in der Klasse und in der 
Liebe der Lehrerin, wenn man tüchtig ist, tüchtig im V issen 
oder im Schwindeln, im Schmeicheln oder in der Lnergie. Die 
inhaltliche Erfüllung dieses Betriebes geht dahin: Schul-und 
Bücherwissen über alles hoch und jenseits jedes Zweifels zu 
stellen. Und in diesem Rahmen werden die Geschichten, die 
die Lehrer den Kindern von der bürgerlichen Gesellsdiatt 
erzählen, ihren Zweck, nidit verfehlen . . . Die Krönung 
dieses Schulwesens ist aber in der Organisation der Puber- 
tätserzichung gegeben, die ich besonders sorgfältig durdidadit 
habe. In dieser Zeit entstellt eine neue Welle von Autoritäts¬ 
ablehnung und die Neigung, das eigene Leben und das der 


107 




Gesamtheit einer Art sittlidier Revision zu unterziehen. Wir 
müssen bemüht sein, die Früchte der Kindererziehung diesen 
Gefahren zu entziehen. Daher werden die jungen Proletarier 
ihrer Ökonomischen Situation völlig überlassen. Ihre Eltern 
werden sie zu wirtschaftlicher Selbständigkeit treiben, und 
sie werden in Fabrik und Lehre, wenn wir nicht eingreifen, 
ein ihren erwachsenen Klassen genossen völlig gleichartiges 
Leben führen, ja da zu erwarten ist, daß ihre Gewerkschaften 
schwächer sein und die Organisationen der Erwachsenen für 
sie weniger stark eintreteten werden, müssen sie unter 
einem härteren Drude der Ausbeutung stehen. Sie werden, 
da ja die Schule sie dahin vorbereitet hat, auch die Fabrik 
und das ganze Wirtschaftsleben unter der affektiven Ein¬ 
stellung der Familie - unbewußt, versteht sidi - auffassen. 
Das heißt, sie werden ihre Aggressionen und Liebeswerbungen 
auf den persönlichen V orgesetzten oder den Einzelunter¬ 
nehmer richten. Die sozialistischen Parteien werden es sehr 
schwer haben, ihnen dahinter die bürgerliche Klasse zu 
erweisen. Wenigstens wird die Anfklärung nicht in tiefere 
seelische Schichten dringen. Die Pubertät, eine Zeit intensiver 
sexueller Anwandlungen, wird zu Sexualisierungen ihrer 
wirtschaftlichen Tätigkeit drängen, da in dieser Fabriks- und 
Familienenge zu höheren Sublimierungen kein Platz ist. Der 
wirtsdiaftliehe Bezirk wird sich ihrem unbewußten Denken 
mit dem sexuellen vermengen, der aussdiließend Besitzende, 
der Unternehmer, oder auch sein Direktor oder Werkführer, 
wird ihnen V ater sein. Und hiemit wird die überwiegende Menge 
in ihrer Aggression und Auflehnung, so lärmend sie auf- 
treten mag, innerlichst gebrochen sein, denn sie ist paralysiert 
durch die Erinnerung an die infantile Katastrophe, die der¬ 
selben Situation entsprang, und wird gebunden sein durch die 
ebenso unbewußte Liebe zum und Identifikationstendenz mit 
dem Vateruntemehmer. Die wirtschaftliche Selbständigkeit 


108 



der Jugendlidien wird diese Identifikation stärken. Und 
sollten etwelche trotzdem einen Ausweg aus ihrer Situation 
suchen, sollten sie erkennen, was sie in ökonomisdier 
Sklaverei hält, so werden sie wahrsdi ein lieh, durch die Sdiule 
und durdi die öffentliche Meinung, durdi die klug vor¬ 
bereitete Verwirrung der Begriffe Kultur und Bildung, die 
audi die Arbeiterparteien nur sdvwer durdisdiauen werden, 
das Leben der von ihnen getrennten bürgerlichen Jugend 
anstreben, und Bildung suchen, und zwar natürlidi jene, die, 
wie sie meinen, den Wert und die Macht der bürgerlidien 
Jugend und Gesellschaft ausmadien. Sie werden sie nicht 
finden . . .“ 

Unterriditsminister Madiiavell hat in dieser Weise noch 
lange und sehr ins Detail gehend gesprochen, als ihn die 
Verwunderung und Bcfremdung, ja die Wut der Hofräte 
belehrte, daß er wörtlich das Bestehende vorgeschlagen habe, 
nur in einer völlig staatsfeindlidien, zynischen, unwahren, 
unidealen Weise. Man zweifelt nicht, daß dieser sein erster 
Regierungsakt audi sein letzter war. Wir haben ihn aber so 
lange beim Wort gelassen, weil, so meine ich, gerade seine 
Rede für all das sehr lehrreich ist, was idi die Tendenz in 
der Erziehung nenne, obglcidi er meistens nur von der 
Erziehung im engeren Sinne sprach. Und obglcidi er den 
psychologischen Standpunkt entschieden zu sehr in den 
Vordergrund rückte. 

Die Tendenz schafft selten eine Erziehungseinriditung r 
und kaum häufiger eine Erziehungsmaßnahme, aber sie färbt 
sie alle in einer bestimmten Weise; gibt ihnen die Ideologie 
und Rechtfertigung; und unterdrückt Erziehungseinriditungcn, 
-Maßnahmen, Ideologien, die ihr zuwider sind. Sie ist in der 
Klassengesellschaft, in jeder auf Macht aufgebauten Gesell¬ 
schaft, gänzlich unvermeidlich. Ich mödite eine eingehendere 


109 





Erörterung ihrer Beziehung zur organischen Rekapitulation, 
zur libidinösen Identifikation, zur Kulturpluserzielung, zur 
Funktion und den Konstanten der Erziehung, für das letzte 
Kapitel aufsparen; hier schon aber will erwogen sein, daß 
das Kulturplus als solches Bestandteile, Kenntnisse sowohl 
als Kräfte enthält, die gegen den Bestand der bestehenden 
Ordnung, gegen die bestehenden Madit Verhältnisse, gegen 
die bestehende Wirtschaftsweise, geruhtet sind. Die Funk¬ 
tion der Erziehung wäre es, sie ebenso wie deren Feinde der 
heran wadisenden Generation zu vermitteln. Die Tendenz 
sdiränkt diese konservative Funktion ein, indem sie Werte 
setzt, die gegen die herrsdiende Madit geriditeten Elemente 
des Kulturplus entwertet, auf den Aussterbe-Etat setzt, um 
mit der von soldien Tendenzen beeinflußten heran wach senden 
Generation eine Sidterung ihrer Position zu erlangen. Die 
Tendenz ist notwendigerweise an das Bestehen einer Instanz 
gebunden, die sie durchsetzt, und diese Instanz kann in 
niemandes anderen regulierenden Händen liegen, als in der 
Gruppe, die letzten Endes die gescllsdiaftlkhe Madit besitzt, 
und das ist heute das Weltindustrie- und Finanzkapital. 

Aber nicht einmal mit der Aufdeckung der Tendenz sind 
wir ans Ende der Komplikationen gelangt. Leider, ruft der 
Sdiriftsteller, der sidi bemühen muß, auf wenigen Seiten, 
womöglidi ohne langweilig zu werden, diesen komplizierten 
Aufbau mit Worten verständlich zu machen; Gott sei dank, 
antwortet der menschenfreundliche Leser, den diese theore¬ 
tischen Bemühungen wenig interessieren, der vielmehr all 
dies nur soweit zur Kenntnis nimmt, als er hofft, vom Autor 
endlich zu erfahren, was nun zu tun sei, was zu tun möglich 
wäre; also leider oder Gott sei dank, gewiß aber: die Er¬ 
ziehung in unserem Zeitalter ist nicht von e i n e r Tendenz, 
sondern von deren zweien geleitet und gefärbt. Entsprechend 
den zwei Machtgruppen, deren unentschiedener, aber hart- 


110 




nackiger Kampf das Leben auf diesem unglücklidicn Planeten 
so unsidier, so unliebenswürdig, so fragwürdig und dunkel 
ersdicinen läßt, daß es überhaupt erträglich erst dann wird, 
vielleidit, wenn man ihm als Sinn eben diesen gigantisdien 
und dummen Kampf setzt. Wir leben bei weil ein nidit mehr 
in einer stabilen Herrsdiaftszeit der bürgerlidien Klasse. 
Wahrsdicinlidi hat es derartig idyllisdien Zustand nie, auch 
nidit für einen Augenblick gegeben. Immerhin, man kann es 
Romantikern und Sentimentalen gönnen, ihn anno 1500 
oder 1800 anzunehmen. Er ist vorbei, unwiderruflich. Der 
Sozialismus ist ein Maditzentrum, dessen Tendenzen audi 
die Erziehung beeinflussen. Idi spreche vom Sozialismus und 
meine die Arbeiterbewegung, die im wescntlidien den heu¬ 
tigen Sozialismus ausmacht, aber indem idi dies feststelle, 
darf idi ruhig weiter von ihr als vom Sozialismus sprechen. 
Der Sozialismus hat die Macht der Kapi talklasse nicht gebrodien, 
er wirkt nidit an ihrer Stelle, aber er hat ihre Maditäußerungen 
eingesdiränkt, er zwingt zu Umwegen, zu Sdileidiwegen, zu 
Kompromissen, zugleich freiIidi zu energischeren Sicherungen, 
zu entsdiiedeneren tendenziösen Einsdircitungcn und Unter¬ 
drückungen. Das eine oder das andere oder beides tritt ein, 
je nadidem die relative Macht des Sozialismus gestiegen oder 
gesunken ist, oder anzusteigen droht. Wir können hier nidit 
den wunderlichen Linien folgen, die die Trabanten eines 
Kräftesystems als ihren Lebensweg zu nehmen gezwungen 
sind, das nidit nur zwei Zentren hat, sondern verschieden 
starke, instabil in ihrer relativen Stärke, mobil in ihrer 
relativen Lage. Aber wir wollen uns den Eindruck sidiern, 
daß die Ideologie, die Tendenz in der Erziehung zu einer 
überragenden licdcutung gelangen muß, hei so verwirrten 
Konstellationen. 

Der Sozialismus hätte bereits gesiegt, spätestens 1Q18, wenn 
er die bchcrrsditc Klasse in ihrem ganzen Umfang erfaßte. 


111 




Es ist Sache der Ökonomen, die Widerstände, die seiner 
Ausbreitung im legitimen Gebiet entgegenstehen, auf ihre 
wirtschaftlidicn Ursachen zu prüfen. Wir haben es mit ihren 
psychischen Parallelen zu tun. Und drücken den audi ökono¬ 
misch ausdrückbaren Tatbestand aus, indem wir sagen: Es 
mangelt ihnen an Einsicht in ihre AusbeutungsSituation oder 
in die Möglichkeit einer anders strukturierten Gesellschaft; 
oder es mangelt ilinen an Mut; er ist ihnen durch die Wer¬ 
tungen der bürgerlichen Gesellschaft gebrochen, die sich auf 
die Unschützbarkeit ihrer Kultur, die nun freilidi durch den 
Sozialismus in Frage gestellt ist, auf die Unverletzlichkeit 
von Besitz, Person, Hecht, die freilidi durch die Revolution 
bedroht sind, beziehen; oder der Vollzug derTat der Revolution, 
die Ermordung des Urvaters Wallstreet und die Besitz¬ 
ergreifung der Urmutter Boden und Kapital ist durch Schuld¬ 
gefühl und Angst, die vor und hinter ihr stehen, gesidiert. 
Soll die herrschende Gruppe ihre Macht festhalten, so muß 
sie die Ausbreitung der Einsicht und die Minderung der 
Angst verhindern. Viele Umstände helfen ihr bei diesem 
Mühen. Die Ideologie ist das konzentrierteste Mittel. Sie darf 
ihren Unterriditsministcr nicht sprechen lassen wie es Bürger 
Madiiavell täte, so lange nidit und dann nicht, wenn sie 
Hoffnung hat, durch die Einkleidung ihrer Maßnahmen zu 
täuschen über deren Absichten, zu verwirren über den realen 
Zustand. Mit jeder Handlung, die die Gegenmacht sdiwächen 
soll, verknüpft sie eine Geste, eine Rechtfertigung, die ihr 
Proseiyten der Einsichts- und Mutlosigkeit im Lager der 
beherrschten Klasse machen soll. In kritischen Zeiten ermög¬ 
lichen diese Proselyten überhaupt erst die Handlung; in 
ruhigen Zeiten verstärken sie deren Wirkung, den Kraft- 
abbrudi des Gegenmaditzentrums. 

Der Sozialismus bedarf aus demselben Grund eben diese 
Tendenz-Ideologie. Aber seine Ideologie bedarf keiner Ver- 


112 




logenheit, sie ist die einsichtige und mutige Formulierung 
seiner Ziele, Tendenzen und Mittel. Er will nidits anderes 
als die Zerstörung der herrschenden Macht, um sie selbst 
auszuüben. Er kann keine Proseiyten unter irgendeiner 
anderen Fahne madien; für den Gefangenen ist die Befreiung, 
für den Unterdrückten die Abschüttelung des Bedrückers das 
selbstverständliche und keiner weiteren Rechtfertigung 
bedürftige Ziel. Die Gefangenen müssen nur zur Einsidit 
gelangen, daß ihre Kerkermauern nidtt die natürliche, 
unvermeidliche Art sind, in der auf Erden Räume gebildet 
sind, sie müssen den Mut gewinnen, den gewohnten Aufent¬ 
haltsort zu verlassen. Der Sozialismus wird der Erziehung 
die Tendenz geben, diese Einsidit und diesen Mut der 
Jugend zu vermitteln, damit sie klassenbewußt und revolu¬ 
tionär zum gegebenen Zeitpunkt die Tat der Befreiung voll¬ 
bringe. Er kämpft für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, - 
in der unsterblichen Formulierung der großen Revolution - 
für Recht sdilechthin, denn die Freiheit der Unterdrückten 
ist für die Unterdrückten d i e Freiheit, ihr Recht ist ihnen 
das Recht. Und mehr mit Recht, als die 1‘ reiheit der 
Herrschenden sich die Freiheit, ihr Recht als das Recht heißen 
darf. 

Soviel von der Tendenz genügt wohl, um uns die ab¬ 
schließenden Formulierungen dieses Kapitels vorzubereiten. 
Ich will noch einiges über sie im nächsten und letzten sagen, 
und behalte mir vor, in künftigen Büdiern das I hema dort 
fortzuführen, wo es hier unklar und unscharf geblieben ist, 
bleiben mußte, da kein Raum in dieser kurzen Sdirift ist, 
das Allgemeine und Angedcutete durdi Konkretes zu be¬ 
legen. Dieses aller wäre nötig, denn die Tendenz ist ja die 
Variable gegenüber den mächtigen Konstanten der Er¬ 
ziehung, die ich bisher im Vordergründe der Betrachtung 
festhielt. 


Bernfeld, Sisyphos 8 


113 



Die soziale Funktion der, Erziehung ist die Konservierung 
der biopsychisdien und der sozialökonomischen, mit ihr der 
kulturell-geistigen Struktur der Gesellschaft. Nichts als diese 
Konservierung, diese Fortpflanzung. Was darüber hinaus- 
weist, ist der Versuch, die Tendenz, zur Verewigung der 
Machtverteilung von heute, und damit der psychisch-sozialen 
Gegebenheiten von heute. Sie ist demnach nicht allein 
Konservierung im Sinne der Reproduktion des Erreiditen; 
sondern Konservierung im Sinne der Verhinderung eines 
Neuen. Hier gilt nur eine Einschränkung. Die Tendenz ist der 
Erziehung beigemengt, die Macht Verteilung nicht allein im 
Status des Heute zu erhalten, sondern sie zugunsten der 
erziehenden Macht zu verschieben. Sie ist also auch ideell 
konservativ, vom Gesichtspunkt der herrschenden - und 
also au di erziehenden - Gruppe gesehen. 

Sie erfüllt diese ihre Funktion. Daran ist kein Zweifel. 
Ob die Weltverbesserer und Ethiker, die Pädagogen und 
Religiösen noch so sehr sich grämen, oder ob sie ein 
ephemeres Symptom als dauernde Umkehr bejubeln - die 
Kinder, die so um 1924 reif geworden, sie wie jene, die es 
im .fahre 1920 wurden, und die Jahrgänge von 1500 und 12SO, 
sie alle, ob sie erzogen wairden oder nicht, ob gut oder 
schlecht, von diesem mit der seinen oder von jenem mit 
eines anderen Methode, sie alle - scheint mir fast - sind 
Menschen, wie sie eben nun in dieser Zeit und an diesem 
Ort üblidi sind* Die individuellen Unterschiede verschwinden 
nidit minder wie die außertypischen des Alters, es ist die 
große bürgerlidie Schafherde, die schlecht und recht die 
Masse Wolle gibt, die Kosten von Aufzudit, Pflege und 
Vermehrung mit Profit rüdeerstattend und eins genau so 
wie das andere aussehend, wie Sdiafe eben; zwar versichert 
der Schäferjunge, jedes habe sein eigenes Gesicht. Ich glaube 
es kaum; vielleicht täuscht ihn seine Liebe. Was kann da 


tu 


schon für ein großer Unterschied sein zwischen einem Schafs¬ 
gesicht und einem anderen Schafsgesicht. Auf die Wolle 
kommt es an, ihr Freunde, und die ist, nehmt Ihr alles 
nur in allem, ganz gut gewachsen in diesem Segensjahr. 


8* 


H5 



in 

MITTEL, WEGE, MÖGLICHKEITEN DER 

ERZIEHUNG 

Die Überschrift dieses Kapitels mag etwas recht Beruhi¬ 
gendes für die freundliche Leserin haben, die midi schon 
mehrmals durch Einwände und Zustimmung zu polemischen 
Einschränkungen genötigt hatte. Mittel der Erziehung, end¬ 
lich ein Vokabel, das aus der Lehrerinnenbildungsanstalts¬ 
zeit vertraut herüberklingt und allen bösen Fremdworten 
aus Freud und Ethnographie ein Ende setzt. Und gar 
Möglichkeiten der Erziehung! Das gibt Mut. Man kann doch 
ein Kapitel nicht so überschreiben und einfach Zero ant¬ 
worten. Das gibt so viel Mut, daß die freundliche Leserin 
sogar jetzt wagen würde, ihre Frage vom Ende Kap. I, S.43 
beantwortet zu verlangen, wenn sie sie nicht längst schon 
vergessen hätte, und wenn sie nicht, eine umgekehrte 
Ariadne, den Faden im Labyrinth dieses soziologischen 
Kapitels verloren hätte. Wüßte ich nidit für ganz sicher, 
daß sie, nur so aus Gewohnheit von ihrer häufigeren und, 
gern zugestanden, interessanteren Trambahnlektüre her, die 
Einleitung gar nidit, dafür aber die letzten Seiten vorweg 
gelesen hat, würde idi ihr vielleicht entgegenkommen und 
den faden des vorigen Kapitels weiterspinnen. So aber 

116 



springe ich, meinem eigenen unsichtbaren Faden folgend, 
weit zurück und stelle fest, daß die fehlende Antwort 
eigentlidi sdion gegeben ist. Die Pädagogik, in Bausch und 
Bogen, ist ein Werkzeug der Tendenz unserer heutigen Er¬ 
ziehung. Sie ist demnach ein Teil der Mittel, vermöge derer 
die Erziehung ihre soziale 1 ' unktion erfüllt. Sie ist keines¬ 
wegs sinnlos und überflüssig. Vielmehr ein tragendes Stück 
der konservativen Funktion. Sie gibt den 1 cndenz-Ma߬ 
nahmen die ideologische Rechtfertigung; sie gibt sie in so 
verlockender Form, daß sie Proselyten schafft, - ja sie ver- 
wisdit jeden Unterschied zwisdien der Sozialismus-Erziehung 
und der Kapitalismus-Erziehung. Denn jene könnte an der 
Ideologie zum großen Teil gar nichts anderes erfinden denn 
eben diese. Es vollzieht sich hier auf dem Gebiet der Er¬ 
ziehung, was den Machtkämpfen des Bürgertums durchaus 
und allgemein zukommt: es reditfertigt sich mit den ideo¬ 
logischen Formulierungen des Sozialismus. 

Es geht hier etwas tief Unheimlidtes vor sich. Wir haben 
es mehrmals gestreift; es wird Zeit, daß wir die teuflische 
Maschinerie, die es bewirkt, endlich betrachten. Wer rollt 
den Felsblodc des Sisyphos, sooft er oben auf dem Gipfel 
angelangt ist, wieder zu Tal? Es ist die reine lücke, Bosheit 
einer gewaltigen Macht, die es zunächst zu erkennen gilt, 
soll Sisyphos von seiner Qual befreit werden. Denn an sich 
hat der tüchtige Mann Sisyphos dodi fleißige, nützlidie 
Arbeit geleistet und hat sie vernünftig getan. Keine Ursadie 
ist zu sehen, warum sie ewig mißlingt. Der griediisdie 
Tartaros scheint eine rein pädagogische Angelegenheit zu 
sein, eine sonderbare Versammlung von Pädagogen, von 
Repräsentanten erzieherischer Bemühungen. Da ist Tantalos 
z. B. der ärmste; nah umgeben von erfrischendem Wasser 
und köstlichsten ldealfrüditen, er braucht nur zuzugreifen 
und könnte Durst und Hunger einer Ewigkeit stillen, so 


117 



scheint es, aber grausame Erfahrung, die ihm stündlich seit 
Jahrhunderten wird und ihn doch nie belehren kann: Wasser 
und Früchte weichen zurück vor seiner Bemühung, bis in 
unendliche Fernen. O Symbolum idealistischer Pädagogik! 
So nah erscheint die Verwirklichung, ein Sprung nur über 
etliche Formalstufen, eine einzige geschickte Handbewegung 
- und ist doch so unendlich fern. Zwar auch hier muß ein 
Zaubertrick beleidigter Gottheit im Spiele sein. Aber wir fragen 
nicht danach, denn wie immer er zugehe, den Tantalos trifft 
die Strafe mit Recht, hat er doch einen heiteren, lieblichen 
Knaben geopfert, zerstückt, den Göttern zum Fräße an- 
geboten; abscheuliche pädagogisdie Untat, so häufig geübt. 
Des Tantalos Kolleginnen, die Danaiden, so anmutig diese 
fünfzig jungen Damen auch sein mögen, ihr Schicksal ist 
uninteressant, sie leiden unter keinen geheimen Tücken, 
sondern unter eigener Dummheit. Wer könnte Sympathie 
haben für den Versuch, ein Faß ohne Boden mit Wasser zu 
füllen? Das Mittel ist von vornherein unzulänglich. Sie 
sollten es aufgeben, und nicht nach experimentell-didaktischen 
Untersuchungen die Größe und Form der Fingerhüte, gleich¬ 
falls ohne Boden, erproben, mit denen sie schöpfen. Aber 
Sisyphos, er verdient wahrhaftig unser Interesse, unser Be¬ 
dauern, unsere Sympathie. Zwar, daß er die olympischen 
Spiele stiftete, und also das Gymnasion, in weitester Folge 
das Gymnasium verschuldete, ist ein böser Fleck auf seinem 
Namen (zum Glück eine recht wenig gekannte Tatsache), 
doch seine Schuld: die maßlose Überheblichkeit ist nicht un¬ 
verzeihlich. Und wahrhaftig, sein Stein könnte doch einmal 
auf der Höhe liegen bleiben, und es wäre nicht das erste¬ 
mal, daß lange bestrafte, verhöhnte Überhebung trium¬ 
phierte, und dann als Tat gepriesen würde, anstatt als 
Untat geächtet zu sein. Vielleicht will er gar nicht unser 
Bedauern, vielleicht freut’s ihn, daß er immer von neuem 


118 



beginnen kann, vielleicht ist sein Tun eine Art Sport, und 
er'selbst gibt den Anstoß zum Bergab-Rollen. Wenn es so 
ist, wollen wir ihn den Göttern nicht verraten. Und fragen 
demnadi nach der Maschinerie, derer das boshafte Geschick 
auf Geheiß beleidigter Götter sich Ijedient. \\ ie geht 

das zu, daß Pestalozzi der Vater der Volksschule wurde? 
Welche Circe hat diesen grundgütigen Feuerkopf in einen 
Schulmeister verwandelt? Wer hat Humboldts reines Kind 
gegen den Wechselbalg Gymnasium vertauscht? Wer hat 
Fichtes aufredite Männer in teutsche Nationalesel verzaubert? 
Sokrates hat man unschädlidi gemacht, indem man ihn 
tötete; nicht nobel, aber nidit verwunderlich. Die Sokrates 
der letzten Jahrhunderte läßt man leben, man lobt sie, man 
verwirklidit sie, indem man sokratische Methode heißt, was 
sie bekämpften. Idi sollte meinen, das wäre pädagogische 
Art mit llabys umzugehen, denen man Puppen gibt mit 
wirklichen Kindernamen, wenn sie wirkliche Kinder zu haben 
wünschen. Es ist die Art mit Pädagogen umzugehen. Sie 
lassen sidis gefallen. Sie wollen nichts anderes. Denn es tut 
weniger weh. Die Ziele und die Mittel der Erziehung sind 
das Spielzeug, das Lieblingsspielzeug der Pädagogen, warum 
sollen die Erwachsenen ihnen verwehren, nadi Herzenslust 
daran sich zu vergnügen? Verhindert muß nur werden, daß 
sie Schaden anriditen. 

Aber nicht dies ist die Frage, wie es der herrschenden 
Gruppe gelingt, schädliche Bestrebungen zu verhindern, 
sondern wie es gemacht wird und wie es möglidi ist, daß 
zugleich die Bekämpften, die Besiegten sich selbst für die 
Sieger halten können. Wir fragen statt nach den Mitteln 
der Erziehung zunächst nach ihren Wegen; so viel idi sehe, 
darf ich für diese Fragestellung eine Art Priorität an¬ 
sprechen. Denn die pädagogische Literatur, die ich so im 
Laufe von 15 Jahren gelesen und geblättert habe - sie 

119 


* 


kümmert sich nicht um die Dynamik der erzieherischen 
Prozesse in der Gesellschaft, um den Weg des erzieherischen 
Fortschritts, der Mutationen auf dem Gebiet der Erziehung. 
Und doch ist dies offenbar die Vorfrage für jeden, der 
Änderungen der Erziehung wünscht, der sich gesellsdiaft- 
lidie Änderungen durdi solche der Erziehung erhofft. 

Das meiste von dem, was ich im Rahmen dieses Buches 
als Antwort zu sagen wüßte, ist eigentlich im voranstehenden 
verstreut bereits enthalten oder aus ihm leidit abzuleiten. 
Dies so gut wie nach schlagen ist unbequem genug, so sei 
cs ohne jede weitere Entsdiuldigung wiederholt. Es sind 
offenbar zwei Kräftegruppen, die am Zustandekommen einer 
Erziehungseinrichtung und der Erziehung überhaupt Zu¬ 
sammenwirken : die psychologischen und die sozialen. Wir 
sahen die Erziehung als Naturtatsache, in ihrer weiblichen 
und ihrer männlidien Form aus der biopsydiisdien Urreak- 
tion der Mutter und der Hordenmänndien auf die Tatsache 
der ontogenetischen Entwicklung entstehen. Wir sahen wie das 
psychologische Novum Schuldgefühl, das zur völligen Um¬ 
wandlung der Urgesellschaft und der Urwirtschaft führte, 
auch diese pädagogischen Urreaktionen, gleidi allen sozial- 
psychisdien Äußerungen umgestaltete, ohne daß in den primi¬ 
tiven Gesell schatten entscheidbar wäre, was von ihren Ma߬ 
nahmen ursprünglich psychisch und was sekundär sozial * 
beeinflußt wäre. Wir sehen Veränderungen eintreten in der 
Entwicklung selbst: die Kindheitszeit streckte sich und kompli¬ 
zierte sich durch die Einfügung der Latenzperiode zuerst, durch 
die Verlängerung der Pubertät zuletzt. Indessen geht die 
Wirtschaft mit ihrem überbau: Gesellschaft, Politik und Kultur, 
ihren brutalen Eigenweg und die Menschheit findet sich als 
ihren Gefangenen in der Barbarei einer hochzivilisierten 
kapitalistischen Epoche, unsicher, wo die Ausgänge ins Freie, 
sidier aber, daß sie diesen langen Opfer- und Marterweg 


120 





gänzlich ohne Gewinn und Sinn getrieben wurde. Was gesell¬ 
schaftlich geschieht, gesdiieht als Konsequenz der Wirtschafts¬ 
weise, der Maditverhältnisse und der Klassenkämpfe. So 
sehr und ganz, daß eine Kulturgesdiidite möglidi ist, die 
bis in die feinsten und intimsten Details das Kulturgesdiehcn 
verständlich macht allein aus den ökonoinisdien I aktoren und 
Wirkungen. Es ist, als wäre gar kein Raum für Wirkungen 
der psychischen Reaktion in der Gestaltung der Erziehung. 
Sie ist, so sdieint es, restlos ökonomisch bestimmt. Ob der 
heute geborene Knabe 64 Prozent oder 9 Prozent Wahr¬ 
scheinlichkeit hat, diese Erde, kaum gegrüßt, gemieden, als 
Säugling wieder zu verlassen, bestimmt seine Geburts¬ 
situation: ob er in „Wedding-Berlin, der Proletarierhölle”, 
oder im Tiergartenviertel geboren wurde. Die gleidie 1 at- 
sadie wird darüber entscheiden, ob er jene kindlidien 
Konilikte durddeben wird, die dem einzigen, vereinzelten, 
zweiten, dritten Kind, oder jene, die dem Mitglied einer 
adit- oder zwölfköpfigen Familie besdiieden sind. Und wir 
wissen, daß die Wirkungen dieser Konflikte bis in die 
Feinheiten der Charakterbildung gestaltend bestimmen. Daß 
es zwisdien Mutter und Vater, sdiwankend in seiner Liebe 
und seinem Haß, durch die erbangclegte Bahn seiner 
psyduschen Entwicklung und deren Lenkung, Eindämmung, 
Öffnung durdx die in seiner Umgebung gegebene Situation 
schuldig des Inzestwunsdies und des Vatermordgedankens 
wird, und in der Angstkatastrophe dieser unschuldigen 
Schuld, die seelische Instanz des unbewußten Sdiuldgefühls 
erwirbt, Mensch wird durdi das Uber-Ith, ist 1 olge der 
Ökonom isdien Tatsache, daß in Familien ge wirtschaftet wird, 
daß in ihnen gezeugt, daß das Kind ihr Besitz ist, daß es in 
ihnen aufwächst. Und wie dies Aufwadisen gesdiieht, mit 
wieviel Spiel, mit wieviel Arbeit, mit welcher Versagung 
und mit welcher Befriedigung, vor welchen Vorbildern und 


121 




mit welchen Inhalten, was von all dem wäre nicht der Wirt¬ 
schaft und ihrer Folgen unmittelbare Folge? Und daß eines 
Tages die Schule beginnt, und was sie an Inhalt, an Menschen, 
an Moral bringt — ist doch nicht weniger Folge einer be¬ 
stimmten industriellen Situation mit ihren bestimmten 
materialen Forderungen, einer bestimmten Situation im 
Machtkampf zwischen Sozialismus und Kapitalbürgertum, 
mit ihren bestimmten Tendenzen; ganz ebenso wie die 
große Entscheidung im Leben des Kindes, ob es noch weitere 
sieben Jahre Schule als Mittelstufe vor endlichen noch mal 
vier bis sechs zu erwarten hat, oder die Fabrik. Und ob 
das Kind dies Buch oder jenes lesen darf, hängt doch nicht 
davon ab, ob es gut ist oder schlecht, sondern ob es 
10 Pfennig hat für Bücher oder 150 Mark. Und ob dies als 
Kinderbuch kaufbar ist oder jenes, es wird nidit von seiner 
Güte als soldier bestimmt, sondern davon, ob einer da ist, 
der Druckkosten zahlt. Und wer kann solche Summen zahlen, 
wer will es, der es könnte, wenn er nicht hofft, sie rück¬ 
erstattet zu bekommen mitsamt Zins und Profit. Und so 
weiter. 

Ja, es ist kein Ende dieser pompösen Banalitäten: Die 
Erziehung braucht Geld; und das Geld hat das Bürgertum. 
Es denkt nicht daran, es unrentabel zu investieren; am 
wenigsten wird es sich geneigt finden, in dieser oder jener 
Weise den Sozialismus zu stärken. Das Kapital und sein 
Bürgertum hat kein Interesse an der Steigerung der Kultur. 
Was es so nennt, sind ausschließlich die Befriedigungen 
seiner eigenen kulturellen Bedürfnisse, im besten Fall, und 
die Sicherung seiner materiellen Bedürfnisbefriedigung durch 
ideologisches Getriebe. Gewiß der Eine und der Andere, 
Einzelne, mag sich bereit finden, Geld und Geldes wert für 
Kultur, sogar im wahren Sinn das Wortes, also unrentabel 
zu verwenden. Aber diesem Tun ist eine enge Grenze ge- 


122 







setzt, nicht allein durch die verhältnismäßig enge Grenze 
auch der größten Vermögen, sondern dadurch, daß dieser 
Spender ein Opfer der Kapitalgesetze wird; er verliert an 
die anderen, vernünftigeren, kapitalistischeren Mitbürger 
schneller und mehr als er der Kultur zur Verfügung stellt. 
Dies jenem — vielleidit noch vorhandenen — Erziehungsprojek¬ 
tanten ins Stammbuch, der auf den edlen reidien Mann warten 
wollte und vergäße, daß wir nidit 1800, sondern 1924 leben. 
Freilidi, es wäre eine feine Geschichte, dem Kapital 
sein Kapital abzulisten, mit ihm die Proletarierkinder 
sozialistisch erziehen und dann mit dieser Jugend die sozia- 
listisdie Gesellschaft bauen. Vortreffliche Münchhauseniade; 
doch ist diese Sumpferrettung nur für Zopfritter erwägbar. 
Wir Modernen meinen, es wäre fast einfadier, statt ab¬ 
zulisten zu enteignen, und dann braucht es nicht der Geduld, 
eine heranwadisende Generation lang den Nutzen auf¬ 
zuschieben. 

Meine allgemeinste Formel der Erziehung: Reaktion der 
Gesellsdiaft auf die Entwiiklungstatsache begreift all diese 
Sachverhalte völlig in sich. Die ökonomisch soziale Struktur 
der Gesellschaft hat ihren eindeutig bestimmten Rahmen für 
diese Reaktion in sich. Die Organisation der Erziehung ist 
aufs genaueste bestimmt. An ihr ist auf keinem anderen 
Weg auch nur das mindeste zu ändern, als ausschließlidi 
durch eine voraufgegangene Änderung dieser Struktur. 
Diese mag unsdieinbar und jene auffallend sein, aber ge¬ 
schehen muß sie sein. Die Erziehung ist konservativ. Ihre 
Organisation ist es insbesondere. Niemals ist sie die V or- 
bereitung für eine Strukturänderung der Gesellsdiaft gewesen. 
Immer - ganz ausnahmslos - war sie erst die Folge der 
vollzogenen. 

Das hieße: es gibt keinen Fortschritt der Erziehung? Nein, 
es gibt keinen. Nicht so wie es die bange Stimme, die hier 

123 






fragte, meint. Und was ist z. B. mit dem Aufhören des Analpha¬ 
betismus? Mit der Tatsadie, daß gS Prozent der Mensthen 
- in kultivierten, in fortgeschrittenen Ländern eben - lesen 
und schreiben können, was sie nur der Schulpflicht ver¬ 
danken, das soll kein Fortschritt sein? Ich kann tatsächlich 
nicht finden, daß die allgemeinste Kenntnis des Lesens und 
Schreibens verdiente, als Fortschritt gewertet zu werden. Die 
Schrift ist ein Verkehrsmittel, das wie die Eisenbahn oder 
das Radio den Verkehr zwischen räumlich getrennten Men¬ 
schen vermittelt; sie hat Vorzüge vor diesen, weil sie unser 
Vehikel für den Verkehr mit den Toten und noch Unge¬ 
borenen ist. Wird die Schrift von allen Menschen gekannt, 
so entspricht das etwa der Tatsache, daß nahezu alle Men¬ 
schen die Eisenbahn zu benützen verstehen, bald das gleiche 
für das Flugzeug gelten wird. Aber daß einer mit der Eisen¬ 
bahn fahren kann, ist eine kulturneutrale Angelegenheit. Es 
fragt sich dodi erst, ob er den Zug nach Rom nimmt, um 
der Polizei in Wien zu entgehen, ob er dort jobbem will, 
ob er vorschriftsgemäß die Sixtina bewundern, ob er die 
Weinpreise kennen lernen oder was er sonst für Gebrauch 
von der schönen Erfindung der Eisenbahnreise nach Rom 
machen will und kann. Ich kann midi nicht davon über¬ 
zeugen, daß von der Schrift und der Druckschrift allgemein 
oder nur allgemeiner ein würdiger Gebrauch gemacht würde, 
seit sie durch die Schulpflicht, eigentlich durch die Erfindung 
der Rotationsdruckpresse, allgemein bekannt wurde. Man 
darf auch nicht etwa einwenden wollen, Eisenbahnfähren 
müsse man nidit lernen, das könne man „von selbst”, hin¬ 
gegen würde eben durch das Lesenlemen schlechthin jede 
Kulturmüglichkeit erst erschlossen. Denn auch das Lesen¬ 
lernen ist beinahe überflüssig. Ein halbwegs vollsinniges 
Kind bedarf dazu keines siebenjährigen Schulzwanges, ja, 
keines einjährigen Schulbesuches. Früher einmal, da scheint 

124 



es ja eine rechte Kunst gewesen zu sein, aber heute, ge¬ 
wettet, ist außerhalb der Sdiuldidaktik die ganze Zauberei 
in ein paar Wochen erledigt, und mit ihr dauert’s ein paar 
Monate länger. Aber das Ganze ist keine Kulturfrage. Bei 
den alten Juden z. B., da war’s eine Kulturangelegenheit; denn 
für sie war Lesen der Verkehr mit ihrem Gott, ihrer höchsten 
Sittlichkeits- und Kulturinstanz; sie lernten Lesen an der 
Bibel als ihrer Fibel und hatten — wenn sie nur Männer 
waren - eine einzige Verwendung für ihre Fertigkeit: den 
Talmud, der immerhin ihr ganzes Kulturgut umfaßte, es 
mag uns wenig oder viel ersdteinen. Andere Bücher gab es 
nicht daneben. Aber bei uns ist Lesen eine Verkehrsange¬ 
legenheit, vielleicht im Prinzip durch Radio mit Diktaphon 
bereits überw unden, veraltet, auf Spezialzwecke eingeschränkt. 
Man kann, so scheint mir, rcdit versdiiedener Meinung über 
die Wertung des Lesens als Fortschritt sein. Ich finde An¬ 
alphabeten nicht schlimm, wenn sie nur im übrigen „gebildet” 
sind. Aber eigentlich steht dies nicht zur Diskussion. Viel¬ 
mehr ist es riditig, daß die Sdiulpllidit in allen Ländern 
besteht und in allen als ihr Resultat die allgemeine Verbreitung 
gewisser elementarer Kenntnisse — ausschließlich Verkehrs¬ 
mittel, Produktionshilfen oder Tendenzinhalte — vorhanden 
ist, die zwar nicht an sich vorgeschritten sind, in denen aber 
die kapitalistische Entwicklung und der Klassenkampf vor¬ 
geschritten sind. Beide Machtgruppen, jede von einer anderen 
Tendenz her, aus anderen historisdien Gegebenheiten, 
haben die Sdml pflicht durdigesetzt und erhalten, nachdem 
bestimmte gesellsdiaftliche Fortschritte der Entwicklung ein- 
getreten waren, z. B. die Revolution von 1848, mit einem 
Wort, die Demokratie. Der Sozialismus hat allen Grund, 
sidi dieses Erwerbs zu erfreuen; denn er weiß seinen Ge¬ 
brauch von Schrift und Druck zu machen. Aber die Dinge 
stehen nicht so, daß der Fortschritt auf dem Gebiet des 


m 



Schulwesens den Sozialismus ermöglicht oder vorbereitet hat, 
sondern auf einem gewissen Punkt von Machtentfaltung an¬ 
gelangt, also nach einer Veränderung der Struktur der Ge- 
sellsdiaft, wurde eine Änderung der Erziehungsorganisation 
vorgenommen, natürlich eine solche, die die weitere Ent¬ 
wicklung der Macht des Sozialismus zu sichern und zu 
fördern geeignet war. Hier wird die konservative Funktion 
der Erziehung überaus deutlich. Sie erhält den gewonnenen 
Strukturzustand, die neue Machtverteilung, und vermehrt 
sie dadurch zuweilen. Es ist eine Potenzierung sozusagen 
der Konservation. In diesem Fall etwa vom Standpunkt des 
Sozialismus als Fortschritt zu werten (nichtsdestoweniger als 
Konservierung zu beschreiben). Wohl, es gibt Fortschritte 
des Sozialismus, das leugne nicht i c h, sie haben konforme 
Veränderungen der Erziehung zur Folge, die der Sozialismus 
als Fortschritte werten darf. Die Erziehung aber ist immer 
rückständig. Ihr Fortsdiritt besteht darin, daß ihre Rück¬ 
ständigkeit ein wenig überwunden wird. 

Hiermit wären wir unvermutet an eine wirkliche, unüber- 
steigliche Grenze der Erziehung gelangt. Jede Erziehung ist 
in Bezug auf die erziehende Gesellschaft konservativ organi¬ 
siert; in Bezug auf die Machttendenzen der erziehenden 
Gruppe inten sivierend (ausbreitend, vermehrend). Die Variable 
der Erziehung, wie idi oben sagte, erweist sich als bloß 
relativ. Gewiß sind es gerade die Organisationsformen der 
Erziehung, die im Laufe der Geschichte die bemerklichste 
und sicherste Veränderung durchgemacht haben. Sie wandeln 
sich sehr schnell; man bedenke nur, wie in kaum fünfzig 
Jahren die öffentliche Jugendpflege mit ihren ausgebreiteten 
markanten Institutionen wuchs, wie das Jugendrecht in 
wenigen Jahrzehnten, die Testprüfungen in wenigen Jahren 
entstanden und sich entwickelten; man vergleiche die per¬ 
sische Erziehung, wie sie Xenophon berichtet, mit dem 


(2Ö 




Klosterschul-, Universitäts-, Lehrlings wesen des vierzehnten 
Jahrhunderts von Paris bis Salamanka und Padua, mit dem 
Jugendleben im Frankrekh der großen Revolution, und man 
wird - wenn auch nicht durchaus Fortschritte, so doch gewiß 
umwälzende Veränderungen finden. Sie sind aber nidit die 
Verwirklichung irgendwelcher Ideen, Ziele, Projekte, Päda¬ 
gogiken irgendwelcher berühmter oder großer Pädagogen 
und Pädagogiker, und sie sind nicht die Ursachen der übrigen 
kulturellen, sozialen, geistigen und vielleidit audi psydiisdien 
Wandlungen, die in den abgclaufenen Jahrhunderten statt¬ 
fanden, sondern deren unmittelbare Folgen, anonym und 
ohne Zielstrebigkeit, wie nur die unmittelbaren Folgen eines 
Ereignisses eintreten. Die feudal militaristische Gesell sdiafts- 
struktur hat ihre Erziehungsorganisation, ob sie nun bei 
Mexikanern, Ägyptern, Japanern, Persern oder Germanen 
wirksam sei, der moderne Kapitalismus hat die seine, in 
welchem Land immer er wirke, für jede seiner Entwiddungs- 
etappen, für unsere heutige, unsere hiesige. Sie gefällt dir 
nicht? Mir auch nidit, Freund. Du willst sie ändern; etwas, 
ein geringes Detail an ihr ändern? Ändere die Gesellsdiafts- 
struktur, das korrelate Detail an ihr. Willst du lichtes 
Erziehungsorganisation einführen, schäfte seinen geschlossenen 
Handelsstaat, oder beliebt dir ein Stück von Platons päda¬ 
gogischer Utopie, verwirkliche ein Stück, das richtige, versteht 
sich, seines Staates. Es geht nidit anders. Jeder andere 
Versuch ist unzulängliche Sdi wärmerei. 

Die Einsicht in diese, die soziale, Grenze der Erziehung 
verurteilt jegliche Bemühung, vor vollzogener Änderung der 
gesellschaftlichen Struktur etwas an ihrer Erziehungs- 
organisation zu verändern, etwas irgend Beträditlidies. Sie 
lenkt die Kraft, die solchen Bemühungen gewidmet wird, auf 
das Zentrum, die gesellsdiattliche Evolution oder Revolution, 
je nach der Bescheidenheit solcher Änderungslust, ldi werde 




midi zu einer namhaften Einschränkung in einem bald fol¬ 
genden Zusammenhang entschließen. Diese entschuldigt aber 
nicht eine verbreitete Reformtheorie: Ein Iverdün, ein Wickers¬ 
dorf wird tausende schaffen, die Musterinstitution, der bür¬ 
gerlichen Kindheit und Jugend errichtet, wird proletarische 
Nachbilder erzeugen. So wird, langsam vielleicht, aber eins 
zum anderen gefügt, das ganze Erziehungswesen die neue 
dort verwirklichte Form erhalten. Diese Additionstheorie ist 
in sich falsch. An einem Ort, unter der Gunst besonderer 
Umstände und Mittel, ist alles möglich, für eine gewisse Zeit 
lang. Eine Schule, eine Lehrwerkstätte, eine kommunistische 
Kindergruppe ist ebensogut möglidi wie ein närrischer 
Lehrer, ein sadistischer Richter, oder ein vernünftiger Lehrer, 
ein milder Richter. Zu ihrem Bestand und Auftreten bedarf es 
keiner Strukturänderung. Aber ihre Vervielfältigung, das eben 
ist das prinzipiell Neue, das von nirgendsher anders ermöglicht 
wird, als von der vollzogenen gesellschaftlichen Änderung. 

Diese Auffassung ist weit entfernt davon, neuartig zu sein. 
Sic ergibt sich stringend aus Marxens Lehre, die Folgerungen 
sind in der sozialistischen Literatur gezogen worden. Man 
trifft sie aber leider nicht in dem pädagogischen Schrifttum, 
nicht einmal in der — übrigens sehr ärmlichen — sozialistischen 
pädagogischen Literatur genügend eindringlich und aus¬ 
greifend überlegt. Wenig verwunderlich, sind doch die Kon¬ 
sequenzen dieser Grenzsetzung eine sehr empfindliche, eine 
sehr weitgehende Einschränkung der Allmacht der Erziehung 
und damit der Macht jedes einzelnen Erziehers und der Be¬ 
deutung des Pädagogikers und seiner Bemühungen, seiner 
Schriften. Was ein braver Bürger Idealist ist, neidet nie¬ 
mandem die persönliche Macht, welche Geld verleiht, und 
hat es gelernt, die Ausübung politischer Macht den Volks¬ 
beauftragten aller Kategorien, verachtend das politisdie 
Lied, das häßlidie, zu gönnen, aber die geistige Macht, die 


128 






er seinen Ideen, Worten und Schriften zu mißt, will er nidit 
eingesdiränkt wissen. Und, cs soll nidit geleugnet werden, 
daß die Idee und ihre Propaganda in Wort und Schrift zu 
einem sehr entsdieidenden Machtfaktor werden kann und 
oft im Verlauf der Klassenkämpfe zum letzten entsdieidenden 
Siegesfaktor — hüben und drüben — geworden ist. Nur 
kommt der Idee diese Madit - ohnehin weit entfernt, All¬ 
macht zu sein — nicht als solcher zu, sie so wenig wie ihr 
Wort ist ein Zauber, der Regen, Gesundheit, Tod, Revo¬ 
lution, sittliche Vollkommenheit schafft. Sie erhält sic durdi 
ihre Träger, durdi die Männer, die von ihr begeistert, 
erweckt, ermutigt, gewiesen sind. Es hat wohl einen Sinn, 
die Ausgebeuteten aller Länder unter den Ideen des kommu¬ 
nistischen Manifcsts zu einen, denn dies geeinte Proletariat 
kann sehr reale Veränderungen der Macht Verteilung auf 
Erden durch sehr prosaische und ungeistige Mittel herbei¬ 
führen. Aber was soll die Propaganda für Sittlichkeit bei 
Kindern? Da ist ein kapitaler Unterschied, der die Päda¬ 
gogen trifft. Zu furditsam und fein, den Motor gesellschaft¬ 
licher Umwandlung zu erkennen und sidi zur Bedienung an 
dies lärmende und gefährliche Ungeheuer zu stellen, haben 
sie es mit der Kultur. Und hier noch einmal zu furditsam, 
wenden sie sidi an die Kinder, die weder ihnen noch ihren 
Allmaditgelüsten gefährlich sind, denn dies „Jäten und Säen 
in Kinderseelcn” ist eine idyllische Art Agrarbetätigung. 
Gott setzt das Werk auf seine Weise fort und läßt es regnen 
und hageln, und bis es ans Ernten kommt, ist der geruhige 
Säer unter den Toten oder Blinden, und seine Hoffnungen 
sind ewig, denn er sah die Blüte nicht im Drang der neuen 
Jat- und Säegesdiätte; sein Stolz bleibt ewig ungcbrodien, 
da er ihn vorschußweise von seinen Hoffnungen pflückt. Nämlich 
all dies unter der Voraussetzung, daß jene bösen Sätze nicht 
stimmen. Und darum erscheinen sie den Betroffenen falsch. 


Bernfeld, Sisyphos 9 


129 


Da ist zum Beispiel ein prächtiger Satz des Pestalutz: „Es 
ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Welt¬ 
teil keine Rettung möglidi, als durch die Erziehung, als 
durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschen¬ 
bildung. So ist für die Erhebung des Weltteils und audi für 
deine Wiederherstellung, teures, gesunkenes Vaterland, kein 
Rettungsmittel wahrhaft wirksam, das nicht von einer psycho¬ 
logisch tief erforschten Ausbildung der sittlichen, geistigen 
und Kunstanlagen unseres Geschlechts ausgeht und hin¬ 
wieder zu ihr hinführt.” 

Dutzende von solchen, besseren nodi, sind der Ruhm des 
Merks der großen Pädagogen. Aber was anderes als feige 
Selb s tberuhig ung sind sie angesichts der sozialen Grenzen der 
Erziehung. Kein Mittel, ganz wörtlich und völlig ausschließlich, 
kem Mittel gibt es, kein vorgescblagenes, kein erdenkbares, 
Volkskultur zu schaffen, solange die Jugend des Proletariats, 
des Volkes eben, mit zwölf, mit vierzehn Jahren der Straße, 
der fabrik, der Zwangsarbeit ausgeliefert wird. Sinnlos' 
irgend etwas anderes in diesem Zusammenhang zu fordern: 
als Freiheit jedes Menschen von Zwangsarbeit bis zu seinem 
achtzehnten Jahre. Andere Forderungen, jede andere, noch 
so edlen Motiven entsprungen, noch so unvergänglich for¬ 
muliert, stützt die Tendenz der kapitalistischen Machthaber 
in der Erziehung. Konserviert den heutigen Kulturzustand, 
verhindert also jede Ausbreitung der Kulturgüter auf das 
„Volk”. Und diese wirklidie Forderung, ist sie Sache der 
Erziehung oder nicht vielmehr des Sozialismus, Utopie, 
solange er nicht die Macht gewonnen hat, sie zu ver¬ 
wirklichen ? 

Dieser Punkt ist wichtig genug, daß wir noch einen Augen¬ 
blick auf ihm verweilen, er ist ein prächtiger Aussichtspunkt. 
Die V erbreitung der Kultur ist eine höchst persönliche 
Angelegenheit, sie ist Angelegenheit der Persönlidikeit. Wir 


130 




verstehen darunter, d&ß Geist, Fühlen, Wollen, Leben des 
einzelnen Menschen durchdrungen sei von den höchsten 
Werten und Gütern der Kultur der Nation, der Übernation 
Menschheit. Wie jede einzelne seelische 1 ähigkeit, jeder 
Strukturgrad des Ich seinen gegebenen Entwiddungsmoment 
hat, so auch die Differenzierungsgrade, Kultivierungsniveaus 
der Persönlichkeit. Deren Entwicklungsmoment ist die 
Pubertät, ln ihr erwachen, aus Gründen, die in der 
psychischen Situation dieses komplizierten Alters liegen, 
zum erstenmal jene Gefühle und Gedanken, um die sich als 
Kern der kulturelle Gehalt und Wert der Persönlidikeit 
gruppieren wird. Soll diese den höchsten erreichbaren Stan¬ 
dard des, immer noch durchschnittlichcn, Menschen erreichen, 
so muß die Pubertät in einer ganz bestimmten Weise kompli¬ 
ziert sein; sie muß vor allem über die kurze Spanne der 
physiologischen Pubertät hinaus gestreckt verlaufen, sie muß 
bis ins 18., Ja 20. Lebensjahr anhalten. Ein Resultat, das, 
im normalen Fall, nur eintritt, wenn die seelisdie Entwicklung 
der Jugendlidien nicht gehemmt, nidit verarmt, nidit zwangs¬ 
läufig frühgereift wird, durch dessen frühe wirtsdiaftliehe 
Selbständigkeit und den Zwang zur Verdienst-, Zwangsarbeit 
im industriellen Betrieb. 

Diese Freiheit ist demnadi die unerläßliche Voraussetzung 
dafür, daß die Zahl der kulturgemäß entwickelten Persön¬ 
lichkeiten jene Größe erreidie, die menschlichem Hodist- 
maß entspricht, die Durchbildung der Völker ihren zur 
gegebenen Zeit innerlidi erreidibaren äußersten Umfang er¬ 
halte; das Mögliche für die Verbreitung der Kultur getan 
werde. Sie ist sichcrlidi nicht die zureichende Bedingung, 
dieses Resultat zu garantieren. Die so frei gewordene Jugend 
muß ihr Leben in gewisser Weise organisieren, mit bestimmten 
Inhalten erfüllen, von geeigneten Mensdien geführt sein. 
Aber die Voraussetzung ist sie nun eben; nidit mehr, nicht 

. 9* 


131 




weniger, alles demnadi für uns heute. Man tut gut, die 
soziale Grenze übertrieben scharf zu zeichnen. Man ist vor 
jeder Gefahr gesichert, sie zu überschätzen. Sie bestimmt die 
Wege der Erziehung. Der von ihr gesetzte Rahmen für jede 
Erziehung: die Organisation der Erziehung diktiert das Er¬ 
ziehungsresultat, alles was in diesem Rahmen sich abspielt, 
spielt sich bloß ab, ist verhältnismäßig unwesentlich, ändert 
im besten Fall nichts, hilft vielmehr im gewöhnlichen Fall - 
dem schlechtesten - geradezu zum Endresultat. Und dieses 
ist - wie es immer war — der Erwachsene dieser Gesellschaft, 
ihre Herrscher, ihre Bürger, ihre Proleten. 

Die Pädagogen, die ausgehend vom Mißfallen an diesem 
endlichen Gcsamtresultat der Erziehung, weder die Erziehung 
als ihr Denk- oder Arbeitsbereich verlassen wollen — es hält 
sie ihr Temperament, ihre Liebe zu Kindheit und Jugend, 
ihre Bildung, ihre Berufslage oder irgend ein Einfluß aus 
unkontrollierbarcn, tieferen Schichten ihrer Seele - nodi das 
schmeichlerische Gefühl missen wollen, im Zentrum der Welt¬ 
entwicklung mitdenkend, mitarbeitend zu stehen - den Ge¬ 
danken ertragen sie nicht, an der Peripherie des Geschehens 
bescheiden ihr Teil zu tun - deren Intellekt sie aber zwingt, 
die soziale Grenze der Erziehung dem Verstand nach einzu¬ 
sehen und anzuerkennen, diese Pädagogen, ob sie nun 
Kinder erziehen oder Lehrer oder über diese nützlichen Be¬ 
schäftigungen bloß schreiben, finden eine vortreffliche Deckung 
auf ihrer Rückzugslinie in der unbestreitbaren Tatsache, daß 
trotz aller unheimlich leisen und sicheren Wirkungen der 
Erziehungseinrichtungen doch aller Erziehungsprozeß sich 
im Einzelindividuum vollzieht, und daß diese Individuen, in 
dem gleichen Wirkungsrahmen erwachsend, beträchtlich ver¬ 
schieden und auch verschieden wert und kultiviert sind. 

ln diesem letzten Kapitel, das programmgemäß positiv und 
versöhnlich, sozusagen schwarz mit rosa Punkten, gedacht 


132 



wurde, muß ich gute und brave Erzieherseelen kränken und 
desillusionieren. Idi tue es ungern, so sehr, daß idi’s völlig 
unterließe, wüßte idi nidit, sie werden es verwinden, indem 
sie midi als Defaitisten der Kultur nidit ernst nehmen, sidi 
nicht kränken werden. Die Theorie dieser nun leider zu 
Kränkenden lautet: Es kommt auf die sittlidie Gestaltung 
der Einzelpersönlidikcit an, daher bilde ich den Einzelnen; 
tuen alle Erzieher desgleidien, so wird sdilicölidi die Ge¬ 
samtheit aus hodistehenden, sittlichen Persönlichkeiten 
bestehen, und das ist das wünsdienswerte Endziel der Ge¬ 
sellschaft. Idi kann midi für diese halb resignierende Ein¬ 
stellung nicht begeistern. Und meine, daß gegen sie das 
gleiche einzuwenden ist, was für die Additionstheorie der 
Instituetik galt. Es will mir wenig plausibel erscheinen, daß 
der Wille der Erzieher die Sdiranken durchbredien wird, 
welche die sozialen Grenzen darstellen. Es gibt heute wie 
jemals eine Anzahl einzelner Mcnsdien, die uns in ihrer 
psychischen Struktur, in ihrer Haltung zu Welt und Menschen, 
in der Aufstellung und Erfüllung ihrer Pflichten, in der um¬ 
fassenden Weite und der durchdringenden Tiefe ihres Ver¬ 
standes als wünsdienswerter Durch schnitt der Tierart Mensch 
ersdieinen. Wir stehen ihnen nidit bewundernd wie wunder¬ 
lichen und unerreichbaren Gipfelleistungen gegenüber, son¬ 
dern es geht uns mit ihnen wie manchmal mit einem Problem, 
dessen Lösung wir auf verschlungenen Wegen mit bizarren 
Konstruktionen suchten, und dessen Lösung uns dann in so 
einfacher und selbstverständlidier Gestalt geboten wird, daß 
wir verwundert fragen, wie jemals ein anderer Gedanke nur 
die entfernteste Neigung linden konnte: wir haben das Ge¬ 
fühl, so sind Menschen, und staunen, daß es wirklidi wcldie 
gibt, die diese Norm nicht verwirklidien. Idi habe den Ein¬ 
druck, daß solche rechte, brauchbare, wohlgefügtc, sidi und 
den anderen angenehme Mensdien nicht einmal so selten 


»33 



sind, als wir in griesgrämiger Laune, Über uns selbst ge¬ 
tigert, meinen. Beweisen diese nicht durdi ihre Existenz, 
daß soldies Resultat in unseren sozialen Grenzen möglich 
ist? Gewiß. Aber wir kennen die Bildungsgesetze nidit, unter 
denen sie wadisen. Sie haben dasselbe äußere Leben gelebt 
wie andere, sie haben dieselbe Familie, dieselbe Sdiule, die¬ 
selben öffentlichen und geheimen Wirkungen erfahren, nie 
Jene anderen, die mehr oder weniger abweidiend von dieser 
Norm sich gestaltet haben. Sie haben dieselbe psychische 
Struktur wie die anderen, soweit unsere sehr primitiven 
psydioanalytisdien Forschungsmethoden, die nur recht grobe 
Strukturuntersdiiede erkennen lassen, Auskunft geben. Sie 
sind ein Resultat, wir wissen nicht welcher speziellen Ein¬ 
flüsse; wir wissen nicht einmal welcher Kategorien von Ein¬ 
flüssen. Sie sind eine statistisdie Tatsache unserer Erziehung. 
So erstaunlich oder selbstverständlich, wie daß jahraus, jahr¬ 
ein so ungefähr dieselbe Relativzahl der Selbstmörder, der 
Einbruchsdiebe, der Irrsinnigen, der Ermordeten gezählt 
wird. Gelegentlich freilich erfährt diese Ziffer eine beträcht¬ 
liche Veränderung, zuweilen kann dann eine Änderung der 
sozialen Struktur als ihre Ursache gefunden werden, meistens 
ist sie so rätselhaft, wie die übliche Ziffer auch war. Der 
Bestand dieser erfreulichen Menschensorte ist die ange¬ 
nehme Seite der Soziaistatistik. Diese befaßt sich sonst 
meistens mit den weniger sympathisdien Produkten, sie sind 
audi leichter festzustellen, zu rubrizieren und auszuzählen. 
Aber sie bietet wenig Hoffnung für den edlen, jungen Leser, 
der sein Teil hinzu tun will, die Statistik auf den Kopf zu 
stellen. Denn zugegeben auch, eine der freilich unbekannten 
Bedingungen sei, das Kind müsse solch edlen Erzieher ge¬ 
funden haben - dann, junger Freund, sind Sie selbst ein 
Statistikum. Sie haben sich vorgestern entschlossen, Ihr 
resignierendes Weltverbesserungsgennit in den Dienst der 


134 








Kinderverbesserung zu stellen, damit ein edles Herz mehr 
am Werk, ein paar angenehme Mensdien mehr in der 
Zukunft seien — in dem Augenblick, als im fernen Dorfe \. 
soldi ein braver junger Mann wie Sic durdi die Ernennung 
zum Professor der Mensdienbildung verloren gegangen ist. 
Und die Statistik stimmt wieder für eine Weile. 

Das heißt, eine Möglichkeit gäbe es dodi, der Statistik ein 
Sdmippdien zu schlagen. Vielleicht. Der Normmensch, von 
dem wir sprechen, ist eigentlidi der normale. Wir haben ja 
von ihm den Eindruck, daß seine Struktur von jedem Kind 
erreidit werden könnte, das daran nicht verhindert wird. 
Rätselhafterweise gibt es Verhinderungen, die wir nicht 
durchschauen. Aber es gibt Verhinderungen, die wir sehen, 
erkennen können. Denn es gibt Kinder, die in abnormalen, 
unmensdilichen Situationen aufwadisen. Da sollen z. B. etliche 
sein, die sidi in den ersten zehn Jahren ihres Lebens nidit 
ein einziges Mal satt gegessen haben. Das ist ganz abnormal 
für menschliche Struktur. All diese Kinder zu füttern, hieße 
gewiß die Chance für das Nonnerfüllungsphänomen ver¬ 
größern, vielleicht änderte es auch ein wenig an der Statistik. 
Oder, um nidit immer von den groben Trieben zu sprechen, 
sei Pestalutzens Erstaunen wiedergegeben, mit dem er die 
Erfahrungen seines ersten Erziehungsexperimentes esse 
„Es ist eine Erfahrungssache, daß Kinder vom 
ge sdil agendsten Mute, die, in ihrem Müßiggang und e c 
entkräftet und bloß, ohne Gesundheit waren, bei ihnen nicht 
gewöhnter, beständig anhaltender Arbeit dennoch sehr bald 
zu einer frohen Heiterkeit ihres Gemüts und zu einem eins¬ 
maligen frappierenden gesunden Wudis gelangt, durch bloße 
Veränderung ihrer Lage und Entfernung von den Ursadicn 
und Reizen ihrer Leidenschaften. Es ist Erfahrungssache für 
midi, daß vom tiefen unentwickelten Elend sie sich sehr 
bald zur Empfindung der Menschheit, zum Zutrauen und zur 


135 



freundsdiaft emporheben, — Erfahrung, daß Menschlichkeit 
gegen des niedersten Menschen Seele erhebend ist, daß aus 
den Augen des elenden verlassenen Kindes gefühlvolles 
Erstaunen hervorstrahlt, wenn nadt harten Jahren eine 
sanfte ‘mensdiliche Hand cs zu lieben sich darbictet. — Er¬ 
fahrung ist es nur, daß ein solches im tiefen Elend emp¬ 
fundenes Gefühl von den wichtigsten Folgen zur Sittlichkeit 
und Ausbildung der Kinder sein kann.” 

Zu den Grundbedingungen des menschlichen Aufwachsens 
gehört ein gewisses Maß von Liebesökonomie. Das Kind 
bedarf eines gewissen Quantums Befriedigung seiner Liebes- 
triebe, es muß sich geliebt fühlen und muß lieben dürfen. 
\\ ir wissen, daß es auch der Versagung bedarf, fehlte sie, 
ist das Resultat nicht selten die zügelloseste Kriminalität 
(Destruktion). Wir wissen, daß Liebe des optimalen Grades 
nidit ausreicht, das erwünschte Ergebnis zu garantieren. Aber 
wir wissen, über jeden Zweifel frei, daß die Liebe die uner¬ 
läßliche Voraussetzung für. jede Annäherung an die Norm 
ist. ln das liebeleere Leben jener unglücklichen Neuhöfer 
Kinder tritt dieses Liebezentrum Pestalozzi und sie blühen 
auf, ungeahnt, rührend dem XVIII., erschütternd und mahnend 
dem XX. Jahrhundert. Edler, junger Mann, Sie haben recht, 
gehen Sie dorthin wo Kinder sind, die an Liebe darben, 
geben Sie ihnen, nehmen Sie die richtige (glauben Sie mir, 
die versagende) Liebe und wirklich. Sie vermehren die 
Chancen für die Entwicklung einer Menschheit. Aber 
vergessen Sie nicht, falls es Sie drängt zu theoretisieren, daß 
Sie notwendigerweise ein Einzelner sind, daß man Ihnen gewi߬ 
lich das Handwerk legen wird, so wie Sie sich vervielfachen 
sollten, falls nicht vorher der kämpfende Sozialismus zu Ihrer 
Deckung und Sicherung eine neue Machtposition erkämpft 
halben sollte. Und dann seien Sie so lieb und blähen Sie 
sidi nicht als Retter, Sie armer Statist, es steht Ihnen schlecht, 

136 




und den Kindern, die Sie lieben, könnte es beifallen, Ihnen 
gleidmitun, und dann haben Sie Ihren eigenen Zweck zerstört. 

Also es gibt keine seelisdien Kräfte, alles ist wirtschaftlich 
bestimmt? Nicht doch, es gibt seelische Kräfte; und alles ist 
von ihnen bestimmt, auch die Wirtschaft. Wir können die 
Dinge auch so betrachten, und es hat sogar viel wissen¬ 
schaftlichen Sinn, so zu tun. Nur nützt das nichts für die 
Erweiterung der engen Grenzen, die erzieherische in I un 
gesetzt sind. Denn man kann zwar in der wissenschaftlidien 
Betrachtung, ausgehend von der Hypothese etwa einer Art 
psycho-sozialen Parallelismus, die eine Faktorenreihe zu¬ 
gunsten der anderen vernachlässigen, von ihr abstrahieren, 
aber die Erziehung, die es mit der Realität zu tun hat, wird 
sich ständig von dem unerkannten Zusammenhang der 
beiden Reihen gestört sehen, die sozialen Fakta werden 
brutal in die Ketten von Überlegungen eingreifen, die aus 
den seelischen Fakten gefolgert wurden. 

Und daher ist gewißlich riditig: die Wirkungen, die die Gesell¬ 
schaft als Ganzes durch ihre Erziehung auf die Heranwachsende 
Generation als Ganze ausübt — von den Wegen dieser Wirkung 
habe ich nun schon lange genug geschrieben - lassen sich 
größtenteils auf Wirkungen zurückführen, die einzelne 
Er wachsene auf einzelne Kinder ausüben. Die guten sowohl 
wie die schlechten, woher immer wir den Maßstab zu dieser 
Beurteilung nehmen. Hier liegt natürlich, wenn irgendwo, 
eine Möglichkeit für die Erziehung. Nur leider sind die 
Erwachsenen, die Subjekte der Erziehung, ihrerseits die 
Resultate Jenes recht undurchsichtigen Ganzen, das wir 
Erziehung nennen, daher im großen Ganzen ungeeignete 
Subjekte einer Erziehung, die auf große revolutionäre Wand¬ 
lungen der Menschenseele aus ist. Es ist der Hexeming, in 
den die Pädagogik gebannt ihre wunderlichen Tänze 
zelebriert, indem sie die neuen Erzieher für die neuen 


137 




Menschen sucht. Und hier gibt es kein Rettungsmittel. Denn 
Erziehung ist nicht allein, was die Erzieher ausüben (oder 
auszuüben vermeinen). Erziehungssubjekte sind die Väter 
und Mütter, die Tanten und Onkeln, die Krämer und 
Chauffeure, Schutzleute, Schaffner und Postboten, Plakat¬ 
zeichner, Kinoregisseure, Journalisten, Redner . .., es ist die 
ganze heutige Gesellschaft. Im Keller der Nationalbank, 
gewiß, hegt das pure Gold in dicken Barren geschichtet - 
so stelle ich mir wenigstens dieses helle Kapital der National¬ 
ökonomie vor - aber was wir zu sehen, zu handeln bekommen, 
womit wir täglich leben, das sind die zerfetzten, schmutzigen 
K'eingeld^cine, die ihren Wert, ihre Existenz von jenem 
Goldschatz ableiten, aber sdimutzig und wertlos sind trotzdem ■ 
ge egentlich freilich ist ein glatter, strahlend schöner und 
edler mit in der Masse, erstaunt, freundlich, erfreut betrachten 
wir ihn ein wenig länger, halten ihn vielleicht ein paar Tage 
aber dann hat auch er uns zu verlassen. Auch das Bild von' 
diesem oder jenem unserer Erziehungssubjekte bleibt länger 
m uns, vielleicht audi für immer; es wirkte tiefer vielleicht 
als die anderen - wer will das wissen, wer weiß von sich 
mein- als ihm die tendenziös lärmende Oberüäche seiner 
Seele aufdringlich zeigt? - aber unter Tausenden un¬ 
bemerkten schmutzpapierenen. Von jeder Liebe bleibt in uns 
ein dauernder Niederschlag, ein Stüde unseres Charakters, 
unserer Persönlichkeit. Audi von den Lieben zu amtlichen 
Erziehern. Aber vor ihnen waren die entscheidenderen 
Lieben zu den Eltern, zu den Menschen unserer frühesten 
Kinderumgebung, mit und nadi ihnen zu manchen anderen 
Mensdien. Lnd die Liebe fragt nidit immer nadi Wert und 
sittlicher Vollendung; ihr Niederschlag in uns ist nicht immer 
der Wert der geliebten Person. Die Chancen stehen sdilimm 
für unseren edlen jungen Mann, der gerade durch Erziehung 
ic esentliche Welt Veränderungen vorne hm en will. 

13S 


Idi desillusioniere. So sagt man mir. Und idi bin gar nidit 
bereit, das einzusehen, obgleich ich den Tatbestand glaube. 
Idi verstehe ihn eigentlidi nicht. Denn idi kann nicht be¬ 
greifen, was diese großen Hoffnungen mit der Erzieher¬ 
tätigkeit zu tun haben. Will denn ein ordentlidier Schuster 
mit seiner Arbeit mehr als Geld verdienen und, wenn er ein 
Künstler ist, ordentliche Schuhe liefern? Ist er desillusioniert, 
wenn idi ihm beweise, daß Gott auf Erden so wenig wie die 
Sittlichkeit und die Kultur und der Sozialismus durch sein 
Geschäft verwirklicht werden? Und der Arzt, braucht er mehr 
als sein Einkommen und das Gefühl, daß er die Kranken 
gesund gemacht hat? Was geht den Erzieher die Kultur und 
die Menschheit an? Ist cs nidit genug, Pflegebedürftigen 
Pflege zu geben, mit Kindern zu spielen, was sie bekanntlich 
sehr freut, Kinder zu unterrichten, was ihnen schließ!idi 
auch nützt, w T enn es sie audi minder freut, zu lieben und 
geliebt zu werden - in der richtigen Weise, von der idi 
bald nodi einiges zu erzählen habe — wozu noch mehr, 
noch alles dazu: die Zukunft gleich mitgestalten und gar 
nodi im Sinne der letzten Ideale einer geradezu aus- 
sdiweifenden Endgültigkeitsorgie? Wozu dies Plus? Und die 
Desillusionierung, wenn dies Ideal plus gestrichen wird? 

Nun, das sind keine rhetorisdien Fragen. Sie sind be¬ 
antwortbar, und zwar in einer zweischichtigen Antwort. Unn 

Gros ist dieses stürmische Plusbegehren billig abzukaufen 
mit einer entsprechenden Einkommenserhöhung. Laßt sie 
Kinder unterriditen und dadurdi vernünftig verdienen, und 
sie werden ihre Tätigkeit sogleidi für eine in sidi genügende 
und vernünftige halten und sie nidit mehr an den Sternen¬ 
himmel der Ideale knüpfen. Aber andere sind komplizierter 
gebaut. Sie werden unbefriedigt bleiben. Und das liegt tief 
im Wesen der Erziehung verankert. Die Erziehung als 
Tätigkeit in der Paargruppe ist für den Erwadisenen 


139 



unbefriedigend. Er sucht Ersatz, Kompensation in jenen 
Idealen. 

Für diese Unbefriedigung des Erziehers ist manche Ursadie 
aufzuzählen; im Verlauf meiner Darstellung habe ich eine 
ziemliche Anzahl von Gründen erwähnt. Hintereinander 
geschrieben, geben sie ein erbauliches Kapitel. Sie münden 
aber alle in die tieferen Grund Ursachen, die sich wieder aus 
der einen Tatsache verständlich ableiten, daß der Erzieher 
- den ich hier meine und um dessen angebliche Des¬ 
illusionierung wir streiten — seinen Beruf aus Liebe zu den 
Kindern gewählt hat. Und diese Liebe bleibt unbefriedigt. 
Es ist ja auch wirklich eine paradoxe Liebe. Wie kommt der 
Erwachsene dazu, Kinder — wohlgemerkt, fremde, nicht die 
eigenen Kinder — zu lieben und nicht nur in der beiläufigen 
Weise, die wir wohl verstehen, daß einer sich an einem frischen 
Kindergesidit eine Stunde lang erfreut, sich erheitern läßt 
durdi einen tollen Kinderstreidi, durdi eine kluge Frage, 
gelegentlich mit Kindern spielt, selbst ein Kind geworden, 
für ein paar dem strengen Leben gestohlene Minuten, sich 
ein wenig kindliche Zärtlichkeit gefallen läßt, sie freundlich 
spendet, - nicht so, sondern Tag und Nacht, als haupt¬ 
sächlichste eigentliche Beschäftigung, den Verkehr mit Kindern 
zu suchen, mit ihnen, für sie zu leben, zu sorgen und denken, 
den Umgang mit Kindern nidit entbehren zu können und da¬ 
durch zu beweisen, daß in seinem Unbewußten eine starke 
triebhafte Liebe zu Kindern lebt, auch wenn er bewußt davon 
nicht viel, vor allem nichts Drängendes, nichts von Sehnsucht und 
Genuß erlebt. Der Erwachsene sonst liebt keineswegs Kinder; 
von den eigenen, die er lieben muß, weil er sie nidit hassen 
darf, sei abgesehen. Sie stören, machen Lärm und Schmutz, 
schwatzen Unsinn, belästigen in jeder erdenklichen Weise. 
Man liebt sie nicht, hat mit ihnen womöglich nichts zu tun; 
läßt sich’s aber nicht vermeiden, so wird bald Ärger, Feind- 


140 



Seligkeit, Abneigung in dieser oder jener Weise sidi äußern. 
Der gute Onkel, der sdirulligerwcise Kinder liebt, wird 
belächelt und entschuldig*; der Gute weiß eben nidit, wie 
sie wirklich sind, wie sie sind in ihrer sie nicht liebenden 
Umgebung. Der Erzieher ist von diesem Verhalten beträditlidi 
unterschieden, er ist der gute Onkel, der die Onkelhaftigkeit 
zum Beruf gemacht hat. Er liebt Kinder eben, hat diesen t 
Beruf gewählt, weil er ihm den fortgesetzten Kontakt mit 
den Objekten seiner Liebe gestattet. 

Liebe ist ein schönes Wort. Und verwunderlich ist nur, 
daß die Sprache die Freudsdien Entdeckungen vorweg¬ 
genommen hat, indem sie mit dem gleichen Wort eine 
Neigung von beträchtlicher Tiefe bezeichnet, einerlei, welchem 
Objekt sie gilt, ob das nun Landschaften, schöne Weiber- 
beine, Alkohol, Wissenschaft, Gott, rosa Bänder oder Kinder 
sind. Die Sprache findet, daß die Strebung das Wichtige ist, 
sie erklärt alles Begehren für identisch, alles, von einer 
bestimmten, so schwer definierbaren, so sdiön bedichtbaren 
Art und Tiefe. Sie erklärt es alles für das Eine, das I reud 
Libido oder Eros nennt. Unsere prüde Zeit 1 hat freilich ge¬ 
funden, daß es eine Anzahl von Objekten gibt, die unrein 
sind und merkwürdigerweise nicht etwa Geld, Anthro¬ 
posophie, Krieg und unsere famose Gesellschaftsordnung für 
verfehmte Objekte erklärt, die man zwar lieben kann, — 

l) Von der verlogenen Prüderie unserer Zelt zu sprechen, ist dem 
Psychoanalytiker, dessen Wissenschaft so stark unter diesem laktum zu 
leiden hat, eine liebe Gewohnheit. Ich darf sie umso eher festhalten, als 
ich Eltern und Erzieher unter den Lesern dieses Buches erwarten darf. Und 
ln diesen Funktionen sind Alle auch heute noch prüde. Aber es soll nicht 
vergessen sein, daß der Kreis der Schamlosen in den letzten zwei Jahr¬ 
zehnten sehr viel größer geworden ist. Noch weniger aber sei vergessen, 
daß die programmatische Schamlosigkeit derselben fatalen psychischen 
Situation entspringt wie die Prüderie. Eins kann unvermittelt ins andere 
übergehen. Beide Extreme bieten nicht die Atmosphäre, in der Erziehungs¬ 
wissenschaft und psychologische Wissenschaft gedeiht. 


Ul 







denn alles kann man lieben — aber nicht lieben darf, ohne 
die Liebe selbst zu entheiligen, sondern sie hat festgesetzt, 
— perverser Meise daß die Liebe, die den besonderen 
Reizen des anderen Gesdiledites gilt, die die tiefsten Er- 
sdiütterungen und die höchste Lust gewährt, die „unser 
Erdenwallen durch Zeugung verewigt”, die dem urältesten 
Objekt auf Erden gilt und uns mit allem Organischen ver¬ 
bindet, ausgerechnet die Geschlechtsliebe bewertet sie als 
unrein. Und um die Reinheit der übrigen Objekte zu er¬ 
halten, sollen Abgründe des Wesens diese Liebe von jener 
Liebe trennen. So widersinnig, daß man es mit den Vokabeln 
der Sprache, die hartnäckig Liebe und Liebe als Liebe be¬ 
zeichnet, gar nicht klar ausdrücken kann. Die Bewertung kann 
ich mir aufzw ingen lassen, ich kann sie respektieren, wenn idi 
will, wenn ich in Ruhe leben will, aber das Opfer des Intellektes 
kann ich ihr nicht bringen. Niemand darf es mehr, seit dieser 
Mann, Sigm. I reud — darin allein schon groß, über jeden 
Vergleich - unerschrocken vor der Fehme der Prüderie die 
sogenannte geschlechtliche Liebe als die ursprüngliche, als 
die wesentlidie, vorbildhafte, zielgeredite erkannt hat und 
alle andere Liebe als abgeleitete, zielabgelenkte erwiesen 
hat. Diese Auffassung hat nichts mit der Bewertung zu tun. 
Es bleibt jedem Prediger unbenommen, die Liebe zum Genitale 
als unreine, die zur Disciplina gynopygica als heilige Hand¬ 
lung zu beurteilen, darum bleibt doch diese abgeleitete, von 
jenem Ziel eben durch diese Bewertung abgelenkte, die 
ursprüngliche Liebe. Und es lebt in der schwarzen Seele 
solchen Predigers die alte, ewig gleiche Liebe zu ihrem 
ursprünglichen Objekt, freilich im noch schwärzeren Verließ 
des verdrängten Unbewußten fort, und sie ist es, die ihn 
treibt zu solcher lauten Predigt und zu leisen Versuchungen, 
denen er manchmal - hoffe ich - erliegt. 

Solch zielabgelenkte Liebe ist es, die den Erzieher zu 


142 


„seinen” Kindern treibt. Sein Tun ist durch diese Fest¬ 
stellung nicht entwertet. Aber er wird auch in seinen Wider¬ 
sprüchen durch sie verstand lidi. Denn die ziel abgelenkte Liebe ist 
die kompliziertere, sie schafft Situationen tiefster Befriedigung, 
ganz so wie die zielgeredite, sie schafft aber auch Situa¬ 
tionen tiefster Unbefriedigung. Sublimierung hat lreud mit 
einem bequemen Wort die Zielablenkung der Libido von 
ihrem ursprünglichen, dem Sexualziel und dem Sexualobjekt 
auf ein anderes, kulturell hodi gewertetes Objekt oder Ziel, 
genannt. Die Liebe des Erziehers zu Kindern ist echte 
Liebe, freilich sublimierte. Das Kind ist kein geeignetes 
Objekt für die Sexualliebe des Erwachsenen. Wo dies einem 
Individuum triebhaft so erscheint, bewerten wir es als Per¬ 
version oder Verbrechen. Und durch diese Verurteilung 
allein schon wird das Kind völlig ungeeignet zur direkten 
und ursprünglichen Befriedigung. Hatte der Erzieher soldie 
Tendenzen, so verwarf er sie energisch, verdrängte sie sorg¬ 
fältig und restlos aus seinem Bewußtsein, wehrt ihren Durth- 
brudi in Aktion erfolgreidi ab. Er Hebt das Kind und die 
Kinder vielleicht mit ein wenig Zärtlichkeit, die er gibt und 
mit etwas mehr, die er nimmt, doch nicht einmal dies ist 
nötig, sondern er liebt cs im „allgemeinen”, indem er sich 
ihm, seiner Zukunft, seiner Entwicklung widmet. Das Maß 
an solcher sublimierter, sublimer Liebe, das einem zur \ er- 
fügung steht, ist ein wesentlicher und meist redit fiiih in 
der Jugend erworbener Zug seines Charakters. V on ihm 
hängt nicht zuletzt der soziale Wert des Individuums ah, 
denn diese Liebe ist die eigentlich selbstlose; sie hat ihre 
Befriedigung 1 in sich selbst - sie fordert vom Objekt im 
Grunde nicht: mehr, als daß cs Dienste annchme. Fragt sidi 
dann nur nodi, welches Objekt gewählt wurde, ob Brief¬ 
marken oder Kinder, und welche Dienste es annehmen soll, 
ob Prügel oder FreundUchkeit. So wäre der moderne Erzieher, 


143 




der ein wichtiges Objekt und freundlidie Dienste zum Ziel 
seines Liebestuns gewählt hat, nidit allein ein bewunderungs-, 
sondern audi ein beneidenswürdiges Subjekt. Nur leider, daß 
der Vorrat an jener echten sublimen Liebe bei uns heutigen 
Menschen — auch bei deren Erzieher - allzu gering ist, 
nidit ausreicht einem einzigen Kinde das Abc zu lehren, 
eines einzigen Jünglings Konflikte anzuhören. Und dieser 
Mangel wird ersetzt durch scheinbar sublime, in Wahrheit 
gänzlich unabgelenkte, aber von ihrem ursprünglichen Ziel 
abgedrängte Libido. Derer hat der Erzieher überreichlich. 
Aufgewadisen in einer Gesellschaft, die im Grunde auf Haß 
gebaut ist — freie Konkurrenz, Ausbeutung, Krieg, Besitz, 
Profit, sind ihre gesetzlich geschützten Signette — sind seine 
Liebestriebe von Kindheit an, weder gesättigt noch kulti¬ 
viert, sondern verkümmert, verdrängt verwildert. Dürfen 
sie sich sättigen, so ist die Befriedigung lahm und gebrochen, 
mit Sdiuldgefühl beladen, neurotisch verkürzt oder mit 
Konflikten belastet, denen durch Verzicht zu entgehen erträg¬ 
licher erscheint. Und sie dürfen nicht einmal, die guten 
Erzieher. So drängen sie den Wunsch nach Weib oder Mann, 
Kind, Liebe, Selbstsicherheit und Geliebtheit auf die fremden 
Kinder, die dieses nicht erfüllen können, selbst wenn sie 
wollten und jenes nicht einmal soviel dürfen als sie viel¬ 
leicht könnten. So trägt die scheinbare sublime Liebe des 
Erziehers den Keim zur tiefsten Unbefriedigung in sich, 
denn sie ist es aus Not - innerer und auch äußerer - und 
darum bloß zur Not. Schon der geringsten Belastungsprobe 
nicht gewachsen. 

Tiefer ins Verständnis, tiefer aber auch in die Struktur 
der Seele und in die Widerstände gegen die Freudsche 
Lehre führt uns die nächste Schichte der Antwort. Wir 
erinnern uns der zentralen Freudschen Entdeckung: jedes 
Kind entwickelt eine tiefe Liebesneigung zum anders- 


144 



geschlechtlichen Elternteil und im Zusammenhang damit 
heftige feindselige Impulse gegen den gleidigesdilechtlidien 
Elternteil als gegen seinen Rivalen. Der Knabe liebt seine 
Mutter und wünscht an seines Vaters Stelle bei ihr zu 
herrschen, dessen W iderstände mit Todes-, Rache-, Ab- 
neigungs-, Aggressionsimpulsen beantwortend. Er findet sich 
in derselben Situation, die die Sage Ödipus zudiditet, der 
seinen Vater ersdilug und mit seiner Mutter schlief. 
Unwissentlidi und dennoch schuldig. So wie das Kind 
unschuldig, unbewußt sogar in die Ödipussituation hinein¬ 
wächst und doch schuldig gesprochen wird von seinem 
eigenen Ich. Die Ödipussituation ist eine notwendige Ent¬ 
wicklungsphase. Es dauert einige Jahre, drei, vier, fünf, bis 
das Kind in sie gerät, um sie nadi weiteren paar Jahren 
zu überwinden. Sie fehlt in keinem Fall. Audi dann nidit, 
wenn das Kind - der berühmte Waisenknabe der Gegner 
aller Psychoanalyse — nicht mit seinen leiblichen Eltern 
aufwächst; es spielt diese Phase dann an geeigneten Ersatz¬ 
figuren ab. Komplizierte Familienverhältnisse komplizieren 
die Ödipussituation, das ist alles. Aber nicht einmal sicher. 
Denn wir durchschauen noch keineswegs die Bedingungen, 
unter denen die mannigfaltigen Variationen und Komplika¬ 
tionen des Ödipuskomplexes entstehen oder vermeidbar sind. 
Keinesfalls kann ein Kind in der Familie - einer Paargruppe - 
aufwachsen, ohne den Ödipuskomplex zu akquirieren. Sein 
Untergang ist die sdiledithin entscheidende Station der see¬ 
lischen Entwicklung. Das derzeit als normal gesetzte Ende der 
infantilen Situation, die konventionelle Untergangsweise, 
bringt die definitive Abspaltung einer großen Zahl kind¬ 
licher Wünsche, Erlebnisse, Triebe als verdrängtes Unbewußtes 
vom Idb das auf diese Weise, von allen Spuren, jeder 
Erinnerung, jedem Erleben der Urvcrbredicn Inzest und 
Vatermord gereinigt, durch Schuldgefühl, Gewissen, einen 


Bernfeld, Slsyphos 10 


145 







überbau von Idealen, Zielen, Satzungen vor dem Durch- 
brudi des Verdrängten sidi sichert. Das Verdrängte aber ist 
bei weitem nicht erledigt, es bleibt lebendig im Verborgenen 
und wirkt auf das Denken, Handeln und vor allem auf das 
Lieben dieses Idi - entstellt, darum von ihm nidit erkannt, 
unbewußt, darum nidit bemerkt - nachhaltig, entschieden 
und andauernd ein. Die Wirksamkeit dieses Verdrängten 
des Ödipuskomplexes, hat ein fanatisch und sdilau fest¬ 
gehaltenes Ziel: die Kindheitssituation mit ihren Wünschen 
ihren Erfüllungen, ihren Schicksalen wieder licrzustellen 
Wo und wen und was wir lieben: Es liebt in uns und Es 
hebt nur in der einmal schon erlebten Weise. Mit jenen 
Entstellungen, jenen Korrekturen, jenen Kompromissen, die 
as Ich erzwingen kann, erzwingen muß, um nidit vis-ä-vis 
dem einen: dem Unterbrechen zu stehen. 

Entsteht zwisdien Kind und Erzieher überhaupt eine Be¬ 
ziehung, so wird unweigerlich und unvermeidlich die ödinus- 
beziehung sich aus ihr entwickeln. Und zwar von beiden 
Seiten her. Das Kind wird den Erzieher lieben (oder hassen 
Oder heben und hassen), wie es Vater oder Mutter liebt 
oder liebte. Es bringt ihm stürmisch, hartnäckig und, wenn 
es sein muß, verschlagen die Wünsche entgegen, die es zu 
ihnen hegte, und wird sidi getrieben sehen, das Schicksal zu 
wiederholen, das sie damals erfuhren. Und der Erzieher, 
was bleibt ihm anderes übrig, als diese Rolle anzunehmen’ 
einerlei, ob er das Kind liebt oder nicht. Er setzt das Werk 
der Eltern, und wäre es mit anderen Mitteln, fort oder 
wiederholt es in einer dem Kind neuen Weise: er arbeitet 
auf den Untergang des Ödipuskomplexes hin, wenn auch 
des Kindes Sexualliebe zu ihm nicht Inzest, des Kindes 
Aggression nicht Vatermord sind. Unser Erzieher liebt aber 
das Kind. Er spielt seine Rolle freiwillig, mit Begeisterung 
und Hingabe, unter dem Wiederhol ungszwang, wenigstens 

146 




unter den Einwirkungen seines eigenen Ödipuskomplexes. 
Dies Kind vor ihm ist er selbst als Kind. Mit denselben 
Wünsdien, denselben Konflikten, denselben Sdikksalen. Die 
wirklichen Unterschiede wiegen hier leicht. Sie sind Unter- 
sdiicde des Iths, soweit sie überhaupt zählen, aber nicht 
Unterschiede der Triebe und ihrer Wünsche. Und sein Tun, 
sein Erfüllen und Verbieten ist das seiner eigenen Litern. 
Er ist in dieser pädagogischen Paargruppe zweimal enthalten: 
als Kind und als Erzieher. Reichlidi kompliziert, aber noch 
nicht genug. Denn er als Erzieher, er ist gar kein Er, kmn 
Ich, sondern ein denkendes, handelndes Ich, dem eine ufa- 
fremde Gewalt: das Triebwünsdmn seines Verdrängten, 
hemmend und treibend gegenübersteht. So steht der Erzieher 
vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm und dem 
verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu 
behandeln wie er dieses erlebte. Denn was jenem recht, 

wäre diesem billig. Und er wiederholt den Untergang des 

eigenen Ödipuskomplexes am fremden Kind, an sich selbst. 
Er wiederholt es audi dann, wenn er scheinbar das Gegen¬ 
teil all dessen tut, was ihm seine Eltern antaten. 

41so ich finde diese pädagogisdie Situation reichlich kom¬ 
pliziert und sehe des freundlichen Lesers Hoffnung sdiw en¬ 
den in diesem Wirbel von Affekten rationales Tun, zie 
bewußtes Handeln nach Prinzipien und den Resultaten der 
Empirie zu erwarten. Aber das eine wenigstens wird er 
vermuten: sie bietet tiefe Befnedigungsmöglichkeiten für 
den Erzieher, wenn die drei Partner, das Kind vor ihm, das 
Kind in ihm und sein Ich, in Harmonie sich in der großen 
Wiederholung finden. Ebenso groß freilich ist die Möglich¬ 
keit tiefster Unbefriedigung. Ja sie ist eigentlidi unvermeid¬ 
lich auf die Dauer und ein seltener lall, wenn sie nicht 
eintritt Denn die beiden Kinder wollen die Wiederholung 
der Ödipussituation, das Ich will die Wiederholung ihrer 


10* 


147 





OWwmdung, ihres Untergangs. Es antwortet mit Schuld- 
ge 1)1 oder seinen mannigfaltigen Äquivalenten, die dem 
Psychoanalyse-Kundigen nidit aufgezählt zu werden braudten 
dem Unkundigen in einem Nebensatz nidit verständlidi ge- 
madit werden können, die aber alle Unlust erzeugen, 
Hemmung, Überdruß - wenn sidi die von ihm verworfene 
Liebessrtuation einstellen will, das verdrängte Kind weiß 
sah zu radien, wenn sie ihm verwehrt wird. So wird der 
Erzieher auf das Kind vor ihm mit Ärger, Strenge, Inkon- 
sequenz, Verfolgung reagieren - sich meint er und den 
Zögling schlägt er; und verliert dessen Liebe, die er doch 

reihch im erlaubten Maß, in vorgeschriebener Weise erstrebt’ 
Er wd sich to dieser Sit „ ation redl „ crtig( . n _ dur(h 

stisdie Pädagogik. Verliert er die Liebe des Zöglings so 

he- r d 0 " , d u Mensd,heit Sf e winnen für sein mensch- 
heitsfordemdes, -beglückendes Tun. Andererseits gelingt 

es ihm, das Schuldgefühl zu übertönen, wenn die Liebes 

harmonie zwischen den beiden Kindern hergestellt ist, indem 

sein Idi diesen an sich verwerflichen Akt, als Mittel zur 

Mensdlheitsrettung und -Wandlung geheiligt, gestatten darf 
oder muß. 


Eine Reihe von kleinen und großen Fragen, die idi kurz 
angedeutet oder audi unterdrückt habe, wären von diesem 
Punkt aus auf allerhand Seitenwegen zu beantworten. Idi 
muß dies dem eigenen Penken der Leser überlassen, denn 
ich soll in diesem kurzen Buch von den Grenzen der Erzie¬ 
hung sprechen; und trotz der 148 Seiten, die bereits hinter 
uns liegen, ist erst eine dieser Grenzen erreicht. Darum sei 
mit Unterlassung aller Seitenblicke festgestellt, daß uns die 
Erörterung, die idi unternahm, um von der Desillusionierungs- 
urdit midi und den Leser zu befreien, an die Grenze der 
Erziehung geführt hat, die durch die seelischen Tatsachen 
im Erzieher gegeben ist; wir erkennen als Grenze für alles 

148 



ins Große gedachte pädagogische Wollen die Konstanten, 
die seelischen Konstanten, im Erzieher als dem Erziehungs- 
subjekt. Wir sind längst schon auf sie gestoßen, sie entlang 
gegangen, nun erst wollen wir sie als solche erkannt haben. 

Und wie das so zu sein pflegt, daß man die Talwärts¬ 
wanderung gern im Laufschritt nimmt, Serpentinen kürzend, 
kleine Abhänge hinunterspringend, um so eiliger, je näher 
der Abend kommt, kürzen wir unseren Erörterungsweg am 
Ende, das sehr nahe ist, und springen unvermittelt an die 
dritte Grenze der Erziehung. Wir können diesen Sprung 
unbesorgt wagen. Niemand hat gezweifelt, daß er diese 
folgenden Sätze in diesem Buch finden wird, er dachte freilich, 
der Spaziergang würde an dieser Mauer entlang beginnen 
und langsam, stundenlang ansteigend, hinaufführen. Denn 
jeder Bädeker für pädagogische Ambulationen rät auszugehen 
von der Erziehbarkeit des Kindes; sich einen deutlidien 
Eindrude von den psychologisdien Möglichkeiten zu ver¬ 
schaffen, die die Natur des Kindes jedem Erziehungseinfluß 
bietet, den Widerständen, die sie ihm entgegensetzt. Die 
Grenze der Erziehung ist nach der gebräuchlichen Anweisung 
die Erziehbarkeit des Kindes, seine Konstitution, seine Yer- 
änderbarkeit. Es ist nur eine Grenze; aber die allbekannte, 
wenigstens die meistens bedachte. Daher schien es mir 
lohnender, den Spaziergang umgekehrt zu machen, diesen 
steinigen und langweiligen Weg talwärts am Abend zu 
nehmen und den Anstieg über die aussichtsreidieren und 
versdilungeneren Wege zu gehen, die die pädagogischen 
Cicerones nicht kennen. 

Uber die Erziehbarkeit des Kindes haben sich Pädagoglker 
gelegentlich sehr pessimistisch geäußert; so sehr, daß sie 
eigentlich die Pädagogik als Ganzes hätten für überflüssig 
erklären müssen. Das aber taten sie doch nicht. Ich neige 
zwar zu dieser Einstellung, sehe aber doch nicht so schwarz 


149 







in der Frage der Erziehbarkeit. Unter dem Eindruck des 
Darwinismus, der Vererbungslehre, der Konstitutionsforsdiung, 
der Lehre von der Determination des Psychischen mochte 
man sich leicht die Vorstellung bilden, daß das ganze künftige 
Leben des Menschen im Augenblick der Zeugung bereits 
beschlossen ist, daß das Leben des Menschen nichts anderes 
ist als der Ablauf eines mechanischen Puppenspiels, in dem 
jede Bewegung vom Mechanikus vorausbestimmt ist, und daß 
es nur Kindern, die das Uhrwerk nidit verstehen und von 
ihm nichts wissen, als freie Handlung der Spielfiguren er¬ 
scheinen mag. Freilich ist solch ein Determinist nicht viel 
besser daran als diese Kinder. Er weiß, da ist solch ein Uhr¬ 
werk, aber auch er versteht es nicht, er kann nicht Vorher¬ 
sagen, wie sich die Puppen drehen werden, er muß mit ihnen 
verkehren, als wären sie freie, in nidits bestimmte Persön¬ 
lichkeiten, und weiß dodi, daß sie es nicht sind. So ist er 
schlimmer als die Kinder dran. Er wird als Pädagoge sagen, 
was immer am Kinde erzogen wird, es wird sich doch nie 
anders verhalten, als der Mechanikus die Drähte und Federn 
gestellt hatte. Wir haben den Chok des Darwinismus und 
der V ererbungslehre überwunden. Wir sehen, daß sich die 
Menschen keineswegs wie Puppen drehen. Ihr Schicksal ist 
vorausbestimmt - gewiß - vom Augenblick der Zeugung an, 
es wird aber erst fällig in einer bestimmten Biosphäre, in 
einem bestimmten Milieu, es wird konkret an bestimmten 
Erlebnissen, durch gewisse Einflüsse von außen. Das Leben 
des Menschen ist Rekapitulation, aber nicht Rekapitulation 
des Lebens des Vaters oder des Urahns. Denn es ist neben 
der Rekapitulation, außer ihr noch ein Eigenes. Es ist ein 
Konkretum, es verläuft an einem konkreten Ort, in einer 
konkreten Zeit, unter konkreten Umständen. Und was wir 
das Leben des Einzelnen heißen, ist jene individuelle, ein¬ 
malige Nuance der Rekapitulation, die der allgemeinen. Ten- 


150 




denz durdi ihre konkrete Lokalisation aufgeprägt wurde. Es 
gibt Zufälle. Dem Embryo war die stolze Hakennase vor¬ 
bestimmt, die der Vater trug, es sollte sie wiederholen, so 
wie er sie seinem Vater nachtrug und dieser seinem. Die 
unvorsiditige Amme hat diesen Plan der Natur zerstört. 
Heute nodi zeigt das Mißgebilde die Absiditen der wieder¬ 
holungswütigen Natur und die Zerstörung des Zufalls — 1 all 
aus dem Kinderwagen — in groteskem Kompromiß. Und das 
Individuelle am Leben ist nichts als das System dieser Zu¬ 
fälle, das Kompromiß zwisdien diesem System und der Re¬ 
kapitulation. Die Tendenz zur Wiederholung ist allgemein, 
ist vieldeutig. Und mein Leben ist eine der müglidien 
Deutungen. Gewiß die einzig möglidie Deutung, rebus sic 
stantibus: als diese meine Erberfahrung in diese meine 
Zufälle geraten war. Das Individuum ist vielfältig gesdiiditet. 
Es ist ein Plasma Organismus, als soldier ein höchst all¬ 
gemeines Ding, von allen anderen nidit bcmerklidi unter¬ 
schieden, das Plasma-Sdiicksal auf Erden wiederholend, einer 
der ungezählten Billionen Fälle. Es ist ein Säugetier mit 
allgemeinem Säugetiersdiicksal. Es ist ein Proletarier vom 
Jahrgang 1890. Es ist ein Ego schließlich mit seinem eigenen, 
einmaligen Schicksalsgesidit. Und gerade diese oberste, 
schmälste und dünnste Schidite ist dem Individuum die 
wichtigste, sie allein ist die seine; die Zufälle, die sie bildeten, 
sind für ihn Erlebnis, Schicksal. Er wehrt sich dagegen, sie 
als sinnlose Zufälle zu werten, er möchte sie als sinnvolle 
Leitung eines freundlidien Gottes oder eines V ereines 
geheimer Männer, wie Wilhelm Meister, deuten, er mödite 
sie Erziehern danken können. Diese individuelle Schidite ist 
auch die für die Erziehung im engeren Sinne bedeutsame. 
Es ist falsch und töricht, zu leugnen, daß in dieser Schichte 
sehr bedeutsame Wirkungen gerade durdi die Erziehung er¬ 
reicht werden, die eben ein Stück des Systems von Zufällen 


151 



ist, das in der individuellen Prägung Leben heißt. Die Be¬ 
einflußbarkeit auch in dieser Schichte ist begrenzt und variabel, 
aber sie ist in einem beträchtlichen Maße vorhanden. Man 
darf sich hier fast optimistisch äußern, ist das Kind auch 
nicht beeindruckbar wie Wadis, so ist es dies noch eher als 
starr und spröde wie Metall. Die Möglichkeiten und Grenzen 
der Beeinflußbarkeit des Kindes genauestens abzuwägen und 
zu bestimmen, wäre eine wichtige Aufgabe der Erziehungs¬ 
wissenschaft. Derzeit aber hat sie nodi wenig Sidieres zu 
ihrer Lösung getan. 

Diese Lücke durch Behauptungen auszufüllen, ist im Zu¬ 
sammenhänge dieser Schrift nicht so wichtig, als darauf auf¬ 
merksam zu machen, daß die Hoffnungen, die von hier aus 
der 1 ädagogik erwachsen, nicht sehr bedeutend sind; wenigstens 
nicht für die Pädagogik mit ihren heutigen Grundeinstellungen. 
Wäre seihst die Beeinflußbarkeit unbeschränkt, die Prognose 
ist äußerst unsicher. Und auf die Prognose kommt es der 
Pädagogik an. Es nützt ihr wenig, zu wissen, daß Jede Er¬ 
ziehungsmaßnahme - wenn es seihst so wäre - einen sicheren 
Einfluß auf das Kind haben, sich in seinem künftigen Charakter, 
seinem erwachsenen Verhalten nadiwirkend bemerkbar machen 
wird; sie müßte wissen, welchen Einfluß eine bestimmte 
Maßnahme, weldien spezifischen Erfolg sie haben wird. Und 
solche Prognose ermöglicht uns auch die vorgeschrittenste 
Psychologie nicht, die wir heute denken können. Es liegt das 
im Wesen des Psychischen. Zwei chemische Stoffe in dem¬ 
selben Mischungsverhältnis, unter den gleichen Bedingungen 
an Druck, Temperatur usw. zusammengebracht, verbinden 
sich immer in der gleichen Weise, immer zum gleichen 
Resultat. Der Chemiker kann dieses Resultat, wenn er es 
nur herstellen will, unter genauer Einhaltung der Bedingungen 
erreichen, er kann es von allen weiteren „Wenn” unein- 
gesdiränkt für gewisse Bedingungen Voraussagen; seine 


152 



Prognose ist eindeutig. Denn Jenes H und O, das er zu Wasser 
verbindet, hat keine Geschichte. Was immer sie vorher erlebt 
haben mögen, in welchen Weltteilen, in welchen Verbindungen 
sie gewesen sein mögen, sie reagieren, wie H und O zu reagieren 
pflegen. Zwei Kinder aber, die man der identischen Ma߬ 
nahme aussetzt, können gleichartig reagieren; es ist dies 
aber nicht gewiß, denn jedes von ihnen hat eine andere 
Geschichte gehabt, und die Geschichte, die ganze Geschichte 
des Individuums, wirkt auf die Handlung, auf jede psychische 
Reaktion. Und die Prognose wird in hödistem Maße un¬ 
sicher. Ich weiß niemals genau, wie sich das Kind in der 
geplanten Erziehungssituation benehmen wird, ich weiß nicht, 
wie sie auf es wirken, wie lange die Wirkung dauern, was 
ihr sdiließlidier Erfolg in dreißig Jahren sein wird. Und nicht 
einmal die Kenntnis der Gesdiidite des Individuums wird 
die Sicherheit der Prognose beträchtlich beeinflussen. Nur 
soweit die gemeinsame Geschichte der Individuen reicht, 
soweit handeln sie gleich (sind sie gleich beeinflußbar, 
behandelbar). Und alle Menschen haben auch ein sehr 
beträchtliches Stüde identischer Gesdiidite, darum sind sie 
einander so verblüffend ähnlich, ununterscheidbar ähnlich für 
ein distanziertes Wesen, wie uns Nichthirten eine Schafherde 
erscheint. Aber dies betrifft ihre unterindividuellen Seelen- 
schiditen; und die Pädagogik will es mit den individuellen 
zu tun haben. 

Aus der mehr weniger dumpfen Erkenntnis dieses lat- 
bestandes hat eine Gruppe von Pädagogikem ihre und der 
Menschheit Hoffnungen auf freud gesetzt. Aber durchaus 
vergeblich, aus Mißverständnis, zum Teil mit Unverstand sogar. 
Seit Freud erst beginnen wir Seelenleben und Kindheit zu ver¬ 
stehen. Die Psychoanalyse ist die einzige - bisher erfundene - 
Methode, die wesentliche Seelengesdiidite eines Menschen 
kennen zu lernen. Sie ist eine historische Methode sozusagen; 


153 





sie lehrt, welche Zufälle Einfluß hatten, sie läßt diesen Ein¬ 
fluß gelegentlich sogar sehr sdiarf von den Wiederholungs¬ 
tendenzen, die er störte oder individuell prägte, scheiden. 
Sie ist zu generellen Einsichten gelangt, sie lehrt uns all¬ 
gemeine Verhaltungsweisen der Psyche formulieren, dem 
Individuum gegenüber Weiht sie aber historisch. Sie weiß 
nicht mit Sicherheit, wie es reagieren wird, so genau sie auch 
weiß, wie es reagiert hat und diese Reaktion eindringend 
verstand. Ihre Prognosen sind nicht völlig unsidier, aber sie 
sind bestenfalls alternativ. Vor diesem bestimmten Kind und 
dieser bestimmten vorgeschlagenen Maßnahme kann sie 
bestenfalls etwa prognoszieren: dies Kind wird entweder zur 
\ crdrangung oder zur Sublimierung veranlaßt sein; in jenem 
Fall entweder mit Reaktionsbildung oder mit Ausfalls¬ 
erscheinung; bei ersterer Möglidikeit entweder - oder usw. 
Sdion das wäre derzeit unerlaubtes Wagnis; aber es ist nicht 
unerreichbar. Audi die Psychoanalyse hilft demnach der 
Pädagogik nicht, die der individuellen Prognose bedarf, deren 
Objekt ein bestimmtes Kind, das Kind der Eltern Mayer ist. 
Dieser Pädagogik hilft audi die optimistischste Auffassung 
\on der Beeinflußbarkeit des Kindes nidit. Jede ihrer Ma߬ 
nahmen bleibt ein Wechsel auf zwanzigjährige Sidit aus¬ 
gestellt; niemand kann ihn girieren, niemand die Bonität 
des Sdiuldners beauskunften. Wobei es gleichgültig wäre, ob 
man das Kind oder seinen Erzieher als Sdiuldner bei diesem 
immer zweifelhaften Geschäft anschen will. 

Dennoch bleibt auch in Bezug auf die Prognose die Er- 
ziehbarkeit des Kindes ein reichiidi optimistisdies Kapitel. 
Denn bei aller Unsicherheit der eindeutigen individuellen 
Prognose ist eine kollektive Prognose möglich, die auf der 
weitgehenden Ähnlichkeit der Geschichte der Menschen und 
er Ähnlichkeit ihres psychischen Verhaltens beruht- Die 
Kenntnis der menschlichen Seelengeschichte, der allgemeinen 

154 








und der individuellen, wie sie die Psydioanalyse bietet, die 
Erfahrung, welche die Erziehungswissenschaft wird bieten 
können - sie erlauben vor einer Gruppe von Kindern zu 
prognostizieren, daß ihrer eine beträdiliche Zahl, die über¬ 
wiegende Mehrzahl vielleicht, auf eine geplante Maßnahme 
in einer bestimmten Weise reagieren wird. Kein Mittel 
könnte ausgedadit werden, das garantiert, aus jedem kind¬ 
lichen Verwahrlosten ein erträgliches Wesen zu machen, 
wohl aber gibt es Mittel, die versprechen, daß dies mit 
einiger Wahrscheinlichkeit gelingen werde. Diese Selbst- 
verständlidikeit ist von immenser Bedeutung, mag sie audi 
anscheinend nicht mehr sein als die vorsichtige Formulierung, 
die der Unvollkommenheit aller mensdilidien Erkenntnis 
Rechnung trägt. In Wahrheit ist sie ein Prinzip für sich. Denn 
aus ihr folgt eine Prognose, die unter gewissen sozialen 
Gegebenheiten ausreicht, um auf ihr eine völlig genügend 
sidiere Basis für erzieherische Maßnahmen zu errichten. 
Handelt es sidi nidit mehr um das Kind der Eltern Mayer, 
sondern um die ganze heute geborene Kindergeneration des 
Staates, so hat sich der Wert der kollektiven Prognose ver¬ 
ändert. Sie ist nicht mehr die vorsiditige, unverbindlidie 
Formulierung der individuellen Prognose, sondern eine, ein 
deutige Auskunft auf Grund deren Entscheid über Wert und 
Wünsdibarkeit einer Maßnahme getroffen werden kann. 
Denn eine sozialistische Ordnung wird wissen, daß sie jene 
Maßnahme durdizuführen hat, die ihr einen gewünditen 
Erfolg bei sagen wir 8(/Yo der ihr unterworfenen Kinder 
garantiert. Sie ist gar nidit interessiert, wessen Sprößünge 
unter dieser Mehrzahl, wessen unter der unbeeinflußt geblie¬ 
benen Gruppe der Minorität sidi befinden werden, während 
die heutige Pädagogik gerade darauf geriditet ist, bei den 
kleinen Mayers einen bestimmten Erfolg zu erzielen, das 
Schicksal der übrigen Millionen oder Prozente ist ihr Hekuba. 


155 





Es drängt sich hier der Vergleich mit der Strategie auf, 
die - Verwirrung und Unheil genug - sozialistische Methoden 
der Menschentötung verwendet, in einer Ordnung, die für 
friedlichere und sympathischere Zwecke die mörderischen 
Mittel der Haßgesellschaft Kapitalismus eingeführt hat. 

Die Armeeleitung schätzt die bei einem Angriff zu er¬ 
wartenden Verluste, findet sie sich mit ihrer Höhe ab, so 
wird sie ihn wagen, und zufrieden sein, wenn ihre Schätzung 
sich nicht als zu niedrig erweist. Ob Mayer unter den Toten 
oder Lebenden ist, eine Frage, die dessen Verwandten und 
f reunden — mit Recht — die wichtigste des Krieges 
dünkt, ist dem Kommando völlig gleichgültig. Vorausgesetzt, 
daß die Strategie nicht durch Protektion gestört oder viel¬ 
mehr gemildert wurde. Die Erziehung wird sich immer, 
welcher sozialen Ordnung sie auch diene, um die Einzel- 
sdncksale kümmern und sorgen. Aber der Entwurf des Grund¬ 
risses desErziehungswesens und dieBewertungder Erziehungs¬ 
einflüsse und -mittel im allgemeinen wird in einer Gesell- 
sdiaft, deren Erziehungsproblem das Gesamtschicksal der 
ebengeborenen Kindergeneration, und nicht das des Säuglings 
Mayer ist, weitgehend rationalisiert sein können und müssen. 
Sie wird unter Verwendung der Erkenntnisse, welche die 
Psychologie Über die Kindesseele und ihre Entwicklung, welche 
die Erziehungswissenschaft über die sozialen Wege der 
Erziehung und die Konstanten im Erziehungssubjekt vermittelt, 
entworfen sein, von ideologischer Rechtfertigung unbewußter 
Wünsche auch von verborgenen Tendenzen der herrschenden 
Minderheit weitgehend befreit sein können. 

Hier liegt innerhalb der drei Grenzen die Möglichkeit der 
Erziehung. Ich hoffe, der Leser hat mich nicht im Verdacht, 
ich möchte nun die Erziehung und ihre Lehre wenn auch 
auf einen von hohen Mauern umgebenen, so doch wind¬ 
geschützteren Raum überpflanzen, sie im übrigen belassend, 

156 













wie sie ist. Er wird — so hoffe ich - nicht vergessen haben, 
daß die Erzieh barkeit des Kindes nicht nur nicht allein, 
sondern nicht einmal hauptsädilidi von den Handlungen des 
einzelnen Erziehers bis an ihre Grenze fruchtbar gemadit 
werden kann, daß sidi die kollektive Prognose demnach 
nicht auf die Erziehung im engeren Sinn beschränkt, sich 
nicht einmal auf sie bezieht, sondern auf das Ganze der 
Erziehung, auf die Reaktion der Gesellschaft auf die Ent- 
widdungstatsadie in ihrer Gesamtheit. Soll die Möglichkeit 
der Erziehung irgend einem Zweck zu Nutz gedeihen, in irgend 
einem Maß vom Willen und den Zwecken einer Gruppe 
bewußt gestaltet werden, muß sie aus der Einstellung erlöst 
werden, die als Ziel die Erwachsenheit eines einzelnen 
Individuums, als Mittel die Handlungen eines einzelnen 
Erziehers vor allem sieht. Jenes ist nie voraussagbar, dieses 
nie entscheidend; die Grundlage solcher Orientation ist im 
Ödipuskomplex verankert, darum rettungslos jeder Ratio¬ 
nalisierung entzogen. Die Voraussetzung aber, dies müssen 
wir wissen, um das Riditige zu tun, für eine nach dem 
Kollektiv um geriditeten Zielsetzung und Prognostizierung, 
auf die Totalität der beeinflußenden Faktoren eingestellten 
Erziehungsgesinnung ist nur in einer sozialistischen Gesell¬ 
schaft gegeben, ist jedenfalls in einer von der Tendenz der 
herrschenden Kapitalistengruppc kontrollierten und gefärbten 
nicht möglidi. 

Diese Behauptung möchte nicht als Bekenntnis, sondern als 
Erkenntnis verstanden sein. Wenn dies Budi sich auch einen 
freieren Ton erlaubt und die persönliche und affektive 
Stellungnahme des Autors nicht so sorgfältig verwischt, wie 
einer wissenschaftlidien Arbeit ansteht, so ist es doch weder 
ein künstlerisches Werk, das Phantasie und Affekt gestalten 
und spielen lassen will, noch eine Agitationsschrift, die unter 
Argumenten einseitig dem Parteizweck dienliche betont, feind- 


157 






liehe unterdrückt, sondern das Ergebnis wissenschaftlicher 
Einsichten, Konstruktionen, Einstellungen. Daher will ich 
nicht für den Sozialismus werben, indem ich ihn als die makellose, 
wünschenswerte, allerlösende Zukunft hinstelle; nicht einmal in 
Zweifel ziehen, daß es noch sehr fraglich ist, wie weit er seinerzeit 
die Menschen befriedigen und die Menschheit befrieden wird; 
sondern an dieser Stelle aussdiließlidi feststellen, daß es not¬ 
wendige Beziehungen zwischen ihm und seiner Erziehung gibt, 
und erweisen, daß er jene Ordnung der gesellschaftlidien Dinge 
darstellt, in der die Pädagogik wissenschaftlich werden kann, 
weil sie nicht mehr nötig hat, ihre Erkenntnisse so einzu¬ 
richten, daß sie zugleich Rechtfertigung für die Tendenzen 
des seine Madit sichernden Kapitals sind und sie Ihre Frage¬ 
stellungen nicht nach dem Interesse der einzelnen Eltern, als 
den Besitzern ihrer Kinder, einriditen muß. Die Erziehungs¬ 
wissenschaft findet keinen festen Grund unter ihren Füßen, 
wenn sie diese im Wesen auf die Paargruppe gerichteten 
Fragen beantworten muß. Nur solche aber sind für die 
bürgerlich-kapitalistische Ordnung von Wert. Und es gibt 
in ihr keine Erzieh ungswissensdiaft, alles Bemühen, das auf 
eine solche hinzielte, wird in sich unwissenscfaafdkh, genötigt 
von der bürgerlichen Ordnung und ihren Tendenzen. (All 
dies als Tatsadienfeststellung und noch nicht als Wertung 
gemeint.) 

Aber sie kann audi keine Erziehungswissenschaft dulden. 
Sie wird ihr weder die Lehrstühle an den Universitäten 
noch die Kapitalien für Institute und Verlage überlassen; 
sie wird ihr nicht die Autorität verleihen, den Aberglauben 
zu zerstören, der sich als fundierte Rechtfertigung des den 
psychischen Konstanten entstammenden erzieherischen Tuns 
maskiert. Im Gegenteil, sie muß solche Versuche stören, wo 
immer sie irgend ein Maß von Sichtbarkeit erlangt haben. 
Denn die gesamte Gesellschaft ist auf der Tatsache der 

158 






Ödipussituation des Kindes und dessen spezifischer Unter¬ 
gangsform aufgebaut. Und daher muß die Erziehung lind 
ihre Ideologie, ihre Wissenschaft, die Folge, die Konservation 
dieser Grundtatsadic sein. Die Erziehungswissenschaft, die 
hievon abschen wollte, die nadiweisen würde, daß diese 
wirklidi geübte Erziehung jenen sozialen Ursachen, diesen 
psychischen Voraussetzungen entspridit, daß aber die Redit- 
fertigung dieses Tuns - das Pädagogik heißt - Aberglaube 
ist, kann sich nur trotz dem Kampfe der herrsdienclen Gruppe 
entwickeln, wenn ihr der Sozialismus Atemluft gewährte. 
Dies aber ist in erster Linie eine Frage seiner erreiditen 
Machtposition. Ich glaube, sie reidit aus für die Entwicklung 
einer sozial istisdien Erziehungswissenschaft, für eine un¬ 
abhängige Erziehungswissenschaft. Die heutige ist, wenn 
sie sich auch nodi so frei fühlt oder gebärdet, abhängig, und 
zwar von den Tendenzen der herrsdienden kapitalistischen. 
Das Phantasma von der völlig freien, von der absoluten 
W issenschaft dient nur der Verschleierung ihrer Abhängigkeit. 
Audi in der sozial istisdien Gesellschaft; wird der einzelne 
Gelehrte, der Betrieb der Wissenschaft, ihre Fragestellung 
und ein gut Teil ihrer Methoden begrenzt sein in den 
Bereidi der materialen und ideellen, der Denkmöglichkelten 
der sozialistischen Ordnung, sie wird ihre jetzigen Abhängig¬ 
keiten gegen andere ausgetausdit haben, aber sie wird 
natürlidi nidit frei, nidit bedingungslos sein. Uns erscheinen 
freilidi diese künftigen Abhängigkeiten erträglicher, frudit- 
barer als die heutigen; es ist fraglich, wie sie den Be¬ 
teiligten erscheinen werden, und wir tun gut, uns dieser 
Tatbestände erinnernd, von sozialistischer Erziehungs wissen - 
sdiaft zu sprechen, die wenn audi nidit die, so dodi eine 
wünschenswerte Wissenschaft ist. Ihre Förderung, meine idi 
nun, könnte heute bereits von der Machtposition des heutigen 
Sozialismus aus geschehen. Sie würde gewiß dessen Fundierung 


159 




rückwirkend fördern. Aber die Sozialisten selbst erfassen 
diese Möglichkeit nicht. Sie sind rückständig in ihren päda¬ 
gogischen Auffassungen, stehen in ihnen hinter dem er¬ 
reichten Denkniveau in anderen sozialen Fragen, hinter dem 
erkämpften Machtstandard zurück. Die Arbeitermassen und 
selbst ihre weitblickenden Führer haben den Gedanken der 
kollektiven Erziehungseinrichtungen und der rationalisierten 
Erziehungsmaßnahmen nicht erfaßt. Sie sind blind befangen 
von dem Aspekt der bürgerlichen Erziehung, die derzeit - 
natürlich — die einzige ist und die ihrer psychischen und 
sozialen Struktur nach eine individuelle, die Wiederholung 
der Ödipussituation und seines Unterganges in der Familien¬ 
sphäre, unter dem t amilienvorbild, in der Paargruppe ist. 
Von dieser Rückständigkeit aus finden die Möglichkeiten der 
Erziehung eine neuerliche Grenze. Hier zum erstenmal eine 
übersteigbare. Warum soll der Sozialismus, der gelernt hat, 
daß es nicht darauf ankommt, die Einkünfte der Besitzenden 
unter die Besitzlosen zu verteilen, sondern daß es auf eine 
neue - eben die sozialistische - Struktur ankommt, warum 
sollte er nicht lernen können, daß es in der Erziehung nicht 
darauf ankommt, die Vergünstigung der Mittel- und Hoch¬ 
schule dem Proletarierkind zu vergönnen und zu erwirken, 
sondern auf eine neue Erziehungsstruktur? Diese Einsicht 
stellt sich her, so wie der Sozialismus die Macht in der Gesell¬ 
schaft erobert; man hat es in Sowjetrußland gesehen. Aber 
sie kann sich vorbereiten, noch ehe das geschehen ist. Man 
kann es erhoffen, ohne zu behaupten, daß die Erreichung 
des möglichen Niveaus in Dingen der sozialistischen Er¬ 
ziehung von überragender Wichtigkeit für die Entwicklung 
des Sozialismus wäre. 

Wie weit die Erziehbarkeit des Kindes reicht und wodurch 
sie erzielbar ist, spielt bei all dem gar nicht die entschei¬ 
dende Rolle. Ich deutete bereits an, daß ich hier in gewissem 

160 




Sinne optimistisch bin. Wir haben keinen Grund zur An¬ 
ahme daß die Rekapitulation der Menschheitsgeschichte im 
"„dividuum bis zum Aufbau des Über-Itb, z.um LWgang 
des Ödipuskomplexes reiche. Es reicht a so e .n 1 “ n 
des Kindes gewiß vom vierten oder sechsten Jahre an voll m 
2 Sphäre der Erziehbarkelt, die durdt die Annahme der Be¬ 
stimmtheit des Über-lth-Schicksals durdt die vor “ ul | g ® B “® 
i . rhrinki aber dwrdi die Möglichkeit Aon 

Jahre zwar e,n B es*rank, ab ^ Triebe und die 

Vorbereitungen aucn erwui 

allgemeinen Mechanismen und Verhaltungsweisen, sie sind 

gewiß in ihrem Bestand, Ziel und Ablauf vorhanden und 
B , von den Wirkungen der beeinflussenden Umwelt 

bh^r dt Inhalte aber des Seelenlebens, die 
Schicksale der Triebe, der Ausbau des Ichs und Über- is, 
sie sind von der Umwelt gestaltet, mitgestaltet. Andc- 
rungen in ihr werden - kollektiv prognostizierbar - 
Änderungen in den Individuen hervorrufen. Und so¬ 
weit sich diese Änderungen verständlich machen lassen er¬ 
folgen sic in mannigfaltigen Abwandlungen desselben 1 nn- 
dns sie werden von Unlust und Versagung erzwungen, die 
A gewohnten (ererbten oder erworbenen) Verhalten s.di 
Cm „ .11 ob sie nun vom Erzieher absichtlich gesetzt 
entgegens e en, «entlieh mitgegeben sind. Sic 

oder durdi die Umgebung unwis ^ , ur Subli- 

nötigen zur Unterdrückung, zur S<hu ldgefühl sind 

mierung, zur Identifizierung. Unlus , ” ’ k „„treten Ver¬ 

dis Motoren, die die Erziebbarkelt zur konkreten 
änderung aktualisieren. Sie sind aber nicht ungefährlich, in¬ 
dem sie die Entwicklung weg von dieser versagenden, äng¬ 
stigenden, sdiuldmadienden Umwelt treiben das Kind bis 

zur Idiotie dieser Welt entfremden können. Sie müssen für 
, cd e„ Verzicht, für jedes Verbot, für jede Versagung Ersatz- 
ust bieten. Und weil Ersatzlust immer eine fragliche Sache 
bleibt so wird die Umwelt so gestaltet sein müssen, daß sie 


Bernfeld, Slsyphoß 11 






verhältnismäßig wenige Verzidite fordert; sie wird der Kraft, 
der Rekapitulationsstufe, der Triebhaftigkeit, dem Lust¬ 
begehren des Kindes angepaßt sein müssen, sollen die Kinder 
an und in ihr zur Übereinstimmung mit ihr heranwachsen 
und nicht in Neurose oder Verbrechen von ihr abgewendet 
oder zügellos gegen sie gewendet, verkümmern oder ver¬ 
wildern. Damit geraten wir aber aufs Neue und sehr be- 
merklidi an die soziale Grenze. Und fragen wir uns, von 
Verzichten redend, wie diese überhaupt möglich sind, so 
stellen wir eine sehr sonderbare und zunächst sehr erfreuliche 
Tatsache fest. Es ist wunderbar leicht, Kinder und Jugend¬ 
liche noch zu beeinflussen und die erstaunlichsten Ver¬ 
änderungen an ihnen zu erreichen. Selbst tief verwahrloste, 
verbrecherische und verwilderte Kinder wandeln sidi in 
wenigen Monaten von Grund auf. Man muß sie nur ihrem 
Milieu entreißen, sie in eine wohlgefügte Kindergemeinschaft 
einreihen, in ihnen durdi geduldiges Liebe-Erweisen Gegen¬ 
liebe wecken und sie durch konsequentes Versagen, das ihren 
primitiven, so erwachenden Liebeszielen auferlegt wird, nötigen, 
sich mit dem Lehrer, den Kameraden, der Gemeinsdiaft zu 
identifizieren. Pestalozzi hat all das in Neuhof und Stanz 
ohne Bewußtheit und ohne Reflexion getan. Uns hat Ereud 
gelehrt, solche Umwandlung der Kinder zu verstehen. Und 
so könnten wir gegen die Gefahr gesichert sein, der ein 
Pestalozzi nodi erlag. Er sah die Wirkungen, er erlebte 
die „Liebeskraft“, die ihr Motor war; er erkannte sie 
sogar als wesentlichen Faktor aller Erziehung. Aber er 
ließ sich von den Niederer und Schmidt verleiten, die 
Akzente zu verschieben, und der Methode immer mehr, 
immer zentraler, immer monomanischer und querer Schuld 
und Verdienst zuzuschreiben; sie zum Zentrum eines 
Systems zu machen, das keinen anderen Sinn hat, als den, 
die Liebestriebe des Erziehers und der Kinder, wenn sie 

162 







schon nicht verdrängt werden können, so doch theoretisch zu 
entwerten. Um diesen Preis gewann er die Zustimmung 
seines Zeitalters vom Kaiser der Russen bis zum trockenen 
Pastor von X-wyl. Beweglich genug hat er als Greis seine 
Irrtümer beklagt, hier aber sogar noch das Wesentlidie 
hinter dem Zufälligen verbergend. Wir könnten von ihm 
lernen; die Psychoanalyse zeigt uns besser, als er selbst es 
wußte, was. — Was von den verwahrlosten Kindern gilt, trifft 
die in der Familie krank, schlimm, unerziehbar, unerfreulich, 
besorgniserregend gewordenen nicht minder. Wie viele von 
ihnen blühen auf, so wie sie dem Bannkreis der Ödipus¬ 
situation entflohen sind. Wie leicht sind ihnen hier die 
Verzichte. Angesichts dieser Bereitsdiaft zum Verzidit, dieser 
weitgehenden leidit erreichbaren Wandelbarkeit, Erzieh- 
barkeit des Kindes, in dem geeigneten Milieu wohl- 
gemerkt, ist die eine große Möglichkeit der Erziehung 
gegeben: die Organisierung des Kinderlebens in eigenen 
Institutionen, die für eine überwältigende Mehrzahl 
aller Kinder Entfaltung, Blüte, Harmonie bringt. 
Eine Möglichkeit, die von sozialen Gegebenheiten gestattet 
oder versagt wird. Und die in ihrer vielleicht verlockenden 
Schönheit herabgesetzt ist durdi unsere Unwissenheit, ob 
soldie Kinder, erwachsen, sidi in irgend etwas untersdieklen 
werden von anderen Erwadisenen ihres Zeitalters. Dies 
bleibt mehr als fraglich. Aber vielleidit ist diese Bereitsdiaft 
zu Verzidit und Erziehung, von der wir hier spredien, 
Anzeichen dafür, daß sie Erwerb früherer Menschen- 
generationen ist, und wir viel moralischer auf die W eit 
kommen als wir meinen, ln diesem Fall ist die Prognose 
günstiger; es ist weniger fraglidi, ob der Erziehungserwerb 
nicht vielleicht mit dem Er wachsen werden verschwindet, es 
ist wahrsdicmlidier, daß er bestehen bleibt, wenn der Er¬ 
wachsende in eine Gesellsdiaft tritt, die den crfreulidien 

163 


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Typus Mensch, den Normmensdien, gebraudien kann und ihn 
nidit zur Veränderung oder zum Untergang bestimmt, wie 
zweifellos in u n serer Ordnung geschieht. In soldi idealer 
Gesellschaft ist dann aber vielleicht völlig gleichgültig, wie 
die Kinder aufwachsen, sie werden durdi Identifikation auf 
alle Fälle Gerechte. Es ist kein Ausweg aus den Ambivalenzen 
und Zweifeln. Der Wissenschafter schämt sich ihrer nicht; 
er übertreibt sie, um sie in Zukunft, so hofft er, zu über¬ 
winden. 


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INHALTSVERZEICHNIS 


I) Von der Pädagogik. 1 

II) Voraussetzung und Funktion der Erziehung ... 46 

III) Mittel, Wege, Müglidikeiten der Erziehung . • .116 







Von Dr. Siegfried Bernfeld ist früher i 
Buchform erschienen: 

Die neue Jugend und die Frauen. Wien, Leipzig , ou _ 

D,1S ’ wII*Lta^ 92 ™ d Se ‘ ne Jugend - VlcH “ bi * «*l« Tausend 

“tÄTÄ — — Versnd 

r U Ä;"'^ 

Vom Gemeinschaftsleben der Jugend LT" Pa ' W ' ,92 ’' 

(Quellenschriften zur seelischen r "i ÜLI*** Z “ r Jupendfors diung 
Zürich l 922 . EnM *Iung, II). Leipzig, Wicn , 

Vom dichterischen Sdiaffcn der Jugend m„ „ 

forschung (Quellenschriften zur seellsdiLn r , ' zur Jugend- 

Wien, Zürich 1924. L ”*’ddclung, ni). Leipzig, 

Die Psychologie des Säuglings, wie» ,925. 


Gesellschaft dir Graphisch 


e Industrie, Wien, III*, Rüdengasse 11, 









Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Wien* VII. Aiulreasgassc 3 


Dr. Siegfried Bernfeld 
\ om Geineinschaftsleben der Jugend 

Geheftet M. jo .—, Halbleinen 12 ,— 

Dr. Siegfried Bernfeld 
V om dichterischen Schaffen der Jugend 

Geheftet M. 12 .—, Halbleinen 14 .—, Ganzleinen 15. _ 

Dr. Oskar Pfister 

Zum Kampf um die Psychoanalyse 

Geheftet JVI, 1 }.—, Halbleinen ij .— 

August Aichhorn 
Verwahrloste Jugend 

Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerziehung 
Mit einem Geleitwort von Prof, Sigm. Freud 

Geheftet M- 9 *— f Ganzleinen t 1 .— 

Op. G. H* Gräber 
Die Ambivalenz des Kindes 

Geheftet M. j.jo, Halbleinen 5 .—, Halbleder 7.— 

Vera Schmidt 

Psychoanalytische Erziehung in Sowjetrußland 

Geheftet M* i ,— 

lagebuch eines halbwüchsigen Mädchens 

Herausgegeben von Dr. Herrn ine J1 ug-Hellmuth 

e 1 IV Papier, geh. M, 4 .—, Pappbd. $.— 

auf holzfreiem Papier, Ganzleinen M. 9. —, Halbleder 12. _ 

Pädagogisdi-jugendpsydiologisdies Heft 

Geheftet M. $ t ~ J 


Verlangen Sic Prospekte über die Werke von 

Sigm. Freud 

(Gesamtausgabe und Einzelausgaben) 






























































































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